Teil 14

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Als ich aufwachte, war Martin wieder am Telefonieren. Emma und Violet spielten draußen. Ich kümmerte mich um das Haus und um das Essen. Je mehr Zeit ich hier verbrachte, desto größeren Respekt hatte ich vor meiner Schwester und vor jeder anderen Hausfrau. Wie schaffte man es, Kinder, Haushalt, Freizeit und vielleicht auch noch einen anderen Job unter einen Hut zu bringen? Ich fühlte mich damit überfordert, doch die beiden Kleinen halfen mir. Ich musste mir langsam angewöhnen, die beiden Kinder nicht als Plage, sondern als kleine Menschen zu betrachten. Hobbits, sozusagen.

„Mama hat vorhin angerufen. Emma war am Telefon und hat dich gelobt. Aber nachdem Mama aufgelegt hatte, war Emma traurig. Ich glaube, sie vermisst Mama sehr. Kannst du dich noch ein bisschen um sie kümmern?"

Als ob dieser kleine Mensch meine Gedanken lesen könnte und mir gleich eine Aufgabe stellen wollte. Ich hatte mich noch nie gern um Frauen gekümmert, die jünger als 18 waren. Das hatte jedes Mal zu Problemen geführt.

Emma lag schon im Bett, als ich eintrat.

„Darf ich reinkommen?"

„Wenn du nicht gleich wieder gehst."

Ich setzte mich zu ihr ans Bett und strich ihr über den Kopf. Ihre Haare waren so kurz und widerspenstig, wie die ihrer Mutter es waren. Sie sah immer aus, als ob sie gerade aus dem Bett gekommen war.

„Wie geht's dir?"

„Ich vermisse Mama."

Ihre kleinen Augen waren den Tränen nahe. Ihre Muskeln im Gesicht verzogen sich. Sie wollten weinen, aber Emma wollte nicht. Ich beugte mich zu ihr herunter und nahm sie unbeholfen in den Arm.

„Hey Emma, Mama kommt bald wieder."

Menschen können in jedem Alter sein, wenn sie weinen, sehen ihre Gesichter immer gleich aus. Ich wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.

„Wie kann ich dich ablenken?"

Sie schniefte.

„Erzähl mir eine Gute-Nacht-Geschichte."

„Okay."

Okay ließ sich so leicht sagen; aber für jemanden, der die letzten Tage nur an Sex gedacht hatte, war eine Kindergeschichte nicht nur Okay, sondern eine Herausforderung. Mir fiel etwas ein, was ich vor vielen Jahren mal geschrieben hatte. Ich ging die Geschichte kurz im Kopf durch.

„Also unsere Geschichte beginnt mit ..."

„Es war einmal!"

„Nein, sondern mit ‚wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.'

Den letzten Teil des Satzes sprach der Junge laut und lachend mit. Er klatschte freudig in seine kleinen Hände und sein strahlendes Lachen schien das Kinderzimmer zu erhellen. Max liebte Märchen. Er liebte sie über alles. Aber er wollte nie eines zweimal hören. Und so kam es, dass seine Mutter alles unternahm, um ein neues Märchen für den kleinen Max zu finden. Millionen Geschichten aus Tausenden Bücher und Hunderten Kassetten hatten sie gemeinsam schon erlebt. Und jetzt kam das, was kommen musste.

‚Mami, liest du mir noch eines vor?'

Gequält sah sie in das junge Gesicht des Kindes. Mit dem Zeigefinger strich sie dem Kleinen das Haar aus den Augen.

‚Max, es gibt keine Geschichten mehr. Ich kann dir keine Märchen mehr vorlesen. Was machen wir jetzt?'

Nur für einen Moment spiegelte sich Enttäuschung in dem Gesicht ihres Sohnes, doch schon dieser Moment offenbarte ihr einen Schmerz, den sie nie wieder in ihrem Leben fühlen wollte. Dann zuckte ein verschmitztes Lächeln in den Mundwinkeln.

Das Leben ist ein Erdbeben und ich stehe neben dem TürrahmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt