Teil 13

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Es war fünf Uhr, als Martin ins Bett ging. Draußen dämmerte es schon. Ich fühlte mich überhaupt nicht müde. So zog ich mich an und schloss die Haustür leise hinter mir. Der Wind fegte die Blüten der Bäume vor mir her. Eine halbe Stunde später bog ich in den Schlossgarten ein. Im heller werdenden Licht des Tages dachte ich nach. Über Martins Geschichte, die er mir erzählt hatte und über meine Pornogeschichte, die ich zu erzählen hatte. Sex im Park? Ich kam langsam zu den Ruinen des Lustschlosses in der Nähe des Planetariums, von dem aus ich den Sonnenaufgang beobachten wollte. Ich erkannte eine Silhouette, die sich den Ruinen von der anderen Seite her näherte. Schwarze Kleidung, bleiches Gesicht, glühende Kippe im Mund und die Haare in die Augen hängend. Der hagere Mann sah aus wie der Tod in seinen jüngeren Jahren. Und dann erkannte ich das Gesicht. Es war Alex, der Typ mit den Zigaretten aus der Bar. Er war vor mir da, setzte über den Zaun und bestieg über die alte Treppe und das neue Baugeländer die Reste des Daches. Ich setzte mich zu ihm.

„Hey Alex. Kennst du mich noch? Will? Wir haben uns vor ein paar Tagen in der Bar gesehen. Ich hab mir ne Kippe von dir geschnorrt."

Alex' Kopf drehte sich zu mir. Dann hielt er mir seine Rechte und mit der linken Hand eine Packung Black Death hin. Ich schüttelte seine Hand und lehnte die Zigaretten ab. Er nahm einen tiefen Zug, atmete aus und nahm den nächsten.

„Was geleitet dich zu solch früher Stunde an diesen Ort?"

„Gute Frage, ich wollte ein bisschen raus aus dem Haus, ein bisschen ..."

Er hob die Hand und bedeutete mir, ruhig zu sein.

„Lass uns den Sonnenaufgang lautlos genießen."

Und das taten wir dann.

Einen Sonnenaufgang hatte ich das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen. In Montenegro. Fünf junge Menschen, die alle vor zwei, drei Jahren erwachsen geworden waren. Wir sind Anfang des Sommers mit dem Zug nach Podgorica. Zwei Monate verbrachten wir in Montenegro. Ohne Plan und Vorbereitung zogen wir durch das Land, das 25mal kleiner ist als Deutschland. Ich weiß nicht mehr, wie viele Menschen dort leben. Viel weniger als in Deutschland, aber alle sind gastfreundlich. Am Anfang der Reise hatten wir uns ein Auto gekauft. Wir hatten uns ausgerechnet, dass wir damit billiger durchkommen würden, als die ganze Zeit mit dem Zug zu fahren.

Wir genossen unseren letzten Abend bei Leuten, die wir kurz davor kennen gelernt hatten, 20 Kilometer von Podgorica entfernt. Um neun Uhr würde unser Zug wieder fahren. Morgens um zwei Uhr bemerkten wir, dass unser Auto mitsamt unserem Gepäck geklaut worden war. Und wir hatten sieben Stunden, um nach Podgorica zu kommen. So wanderten wir die Nacht durch in den Sonnenaufgang hinein.

Nur beim Sonnenaufgang und Sonnenuntergang kann man in die Sonne gucken.

Wir saßen die 20 Minuten schweigend da und beobachteten, wie die Welt erwachte. Je heller es wurde, desto lauter wurde es. Die Vögel zwitscherten mit dem ersten Sonnenschein und irgendwo krähte ein Hahn. Alex zündete sich eine neue Kippe an.

„Nun habe ich die Muße, deinen Ausführungen zu lauschen."

Ich kannte ihn ja eigentlich nicht. Aber ich dachte, was kann es schaden, dem jungen Tod vom Leben zu erzählen? Und so erzählte ich. Von Linda. Von Sara. Von meinen Neffen und Nichten. Von Sam. Von Bob Tail. Von meinem misslungenem Porno. Und dann schwiegen wir wieder. Alex zündete sich eine neue Zigarette an.

„Ich empfand Pornografie nie als anregend oder gar ... erregend. Sie ist so ... wie sagt man, einfallslos. Nein, nicht einfallslos, sondern plump, das ist das bessere Wort. Man bekommt Sämtliches vorgekaut dargelegt. Ja, selbstverständlich ist es angenehm, die Rundungen der Damen so begutachten zu können. Oder von Menschen wie dir beschrieben zu bekommen. Aber durch die Schamlosigkeit, welche in Pornografie breitgetreten wird, komme ich persönlich nie in den Genuss einer Erregung. Obwohl es im eigentlichen Sinne keine Pornografie ist, war ich doch mehr angetan von Ovids Ars Amatoria. Ovid deutet gewisse sexuelle Dinge lediglich an, meist mit einem Hauch von Ironie und Übertreibung. Die eigene Fantasie hat somit ihren Freilauf und sie ist sowieso meist besser als die der Buchstabenwürfler oder Filmemacher. So gesehen begutachte ich doch lieber einen Katalog eines Versandhandels, als dass ich mir ‚Wenn der Klempner zweimal kommt' zu Gemüte führe."

Manchmal redet man mit jemandem, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Dann fühlt man sich, allein aufgrund der Sprache, besser als der andere. So ähnlich ging es mir mit Alex. Nur andersherum. Ich konnte zwar Deutsch sprechen, doch Alex spielte mit den Worten. Er wählte jedes seiner Worte bewusst aus, er war wie ein Mönch der Worte. Machte lange Pausen, nur um unter zehn möglichen das einzig wirklich passende herauszupicken. Nahm sie zurück, wenn sie nicht passten, und spuckte ein weiteres aus. Er ließ sie durch seine Finger gleiten, wie Stoff, den man auf seine Qualität hin überprüft. Er ließ keine unbewusste Zweideutigkeit in seinen Redewendungen aufkeimen.

In späteren Gesprächen verriet mir Alex auch den Grund seiner Hingabe zur Sprache. Weil er in der Schule Probleme mit dem Lesen hatte, wurde er zum Arzt gebracht. Legasthenie, sagte dieser und schickte ihn zum Psychologen. Die anderen Kinder in der Klasse nannten ihn ‚doof', weil er jeden Tag zum Doktor musste. So wurde er durch die Therapie zum Außenseiter. Und irgendwann ging er nicht mehr zu dem Mann mit der Liege, sondern in die Stadtbibliothek. Jetzt, da er keine Freunde mehr hatte, hatte er Zeit. So las er sich durch die Bibliothek. Und mit 15 hatte er seine Lieblingsschriftsteller gefunden. Nämlich diejenigen, die die Sprache, die ihm so Schwierigkeiten machte, zu einer Kunst erhoben hatten. Diese Kunst wollte er erlernen. Aus dem schreib- und leseschwachen Jungen wurde der Beste seines Jahrgangs. Außenseiter blieb er dennoch.

Ich ließ mich von seinen Worttänzen zwar beeindrucken, aber nicht einschüchtern, und dachte über die Essenz seiner Worte nach. Weg von dem direkten Sex zu dem Kopfkino eines jeden Einzelnen. Alex zündete sich eine weitere Kippe an. Es war sieben Uhr und ich war motiviert und wollte schreiben. Ich verabschiedete mich von Alex, aber er sah sich die Welt an, die gerade am Erwachen war. Es schien, als ob ich für ihn nicht mehr da sei. Aber meine Gedanken waren auch woanders, als dass ich mir darum hätte welche machen können.

Sonntags um diese Zeit war noch alles still und ich nutzte diese Stille, um zu schreiben. Eine Geschichte hatte ich schon. Die Geschichte des Blinden namens Tommy, der im Internat immer den allnächtlichen Liebesspielen seines Zimmernachbarn zuhören ‚muss'. Er weiß nicht, was passiert, weil er es nur hören kann, und so lässt er seiner Fantasie freien Lauf. Irgendwann irrt sich das Mädchen im Zimmer und landet bei Tommy. Sie erfährt, dass er blind ist und nichts mit ihr anfangen kann und so zeigt sie ihm, was Erregung bedeutet und verführt ihn jede Nacht. Doch der Junge spürt nur, und kann nicht genau sagen, was mit ihm geschieht und so muss der Leser beurteilen, was das Mädchen mit Tommy macht und wie sie ihn von Höhepunkt zu Höhepunkt treibt.

Ich war begeistert. Sex pur und dennoch Fantasie en masse. Und andersherum. Doch wofür Gedanken nicht mal einen Augenaufschlag benötigen, braucht die Hand auf der Tastatur Stunden. Ich schrieb ein Drittel der Geschichte, bis die kleinen Monster erwachten. Am Frühstückstisch tauschten Motivation und Müdigkeit ihre Plätze. Nun machte sich das Defizit an Schlaf bemerkbar. Ich räumte noch ab, stapelte das Geschirr und legte mich dann ins Bett.


Das Leben ist ein Erdbeben und ich stehe neben dem TürrahmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt