Teil 4

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Ich konnte mir Sams Handy vorstellen, wie es in der Tasche seiner achtlos in die Ecke geworfenen Jeans vibrierte und er durch seine Wohnung rannte und es suchte. Irgendwann klickte es.

„Ja?"

„Donald, ich bin's, Goofy. Wie geht's dir?"

„Willssu die gute oder die schlechte Nachricht zuers hören?"

„Die gute."

„Also, ich bin in nem fremden Bett aufgewacht und ich hab keine Kopfschmerzen."

„Aha, ich schon. Was ist die schlechte Nachricht?"

„Die Frau, die neben mir lag, war nicht die süße Bedienung aus der Bar."

„Sondern?"

„So ne Russin, die hat ganz gelbe Zähne und Finger! Ich hab dann schnell meine Sachen gepackt und bin verschwunden, bevor sie aufgewacht is."

Sprach er von der Frau, die mir Feuer gegeben hatte? Das wäre selbst für Sam ein neues Niveau.

„Wie hast du das geschafft?"

„Keine Ahnung, Goofy. Ich weiß noch, dass ich wieder in die Bar gekommen bin und mich an den Tresen gehockt hab. Und dann hab ich mit dem Barkeeper geredet und gemeint, ob er denn nicht der süßen blonden Bedienung meine Nummer geben will. Der Typ schaut an mir vorbei und meint: ‚Die da?'

Ich nicke und er sagte: ‚Das ist meine Freundin.' Was danach passiert ist, keine Ahnung."

So etwas passierte Sam andauernd. Wir verabredeten uns in einer halben Stunde in einem Pub in Bad Cannstatt. Ich kniete gerade in der Garderobe und band mir die Schnürsenkel, als Violet vor mir stand.

„Onkel Willi?"

„Hm?"

„Wann machst du denn die Flecken wieder aus dem Teppich?"

Ich sah mir den Teppich mit meinen Spuren an. Das würde Stunden dauern.

„Das mache ich morgen, in Ordnung? Wenn ihr in der Schule seid und ich meine Ruhe habe. Wenn ihr wiederkommt, ist alles blitzsauber."

„Und wer bringt mich und Emma ins Ballett?"

Ich sah Violet ungläubig an. Aus meiner knienden Position musste ich zu ihr hinaufschauen und wie sie so auf mich herunterblickte, erinnerte sie mich sehr an ihre Mutter und an deren Drohungen.

„Findet ihr den Weg nicht selbst?"

Wortlos zeigte sie auf die Liste am Kühlschrank. Dort stand geschrieben, ich MÜSSE die beiden Gören auf JEDEN FALL immer zum Ballett begleiten, weil sie auf dem Weg eine große Straße überqueren müssten und sie das allein noch nicht schafften.

Mit meinen beiden Nichten an der Hand wurde ich zum Ballett geführt. Von außen sah das Haus ziemlich unscheinbar aus, doch im Inneren befand sich hinter den Duschen und Umkleidekabinen ein riesiger Saal. Jede Seite war verspiegelt und mit einer Stange versehen.

„In einer Stunde holst du uns wieder ab?"

Mitten im Raum viele blau angezogene Mädchen. Ich dachte an mein Bier, das schon mit Sam auf mich wartete.

„Ja, klar."

Dann kam eine Frau herein, auch einen Gymnastikanzug an. Aber in Schwarz. Ein supersüßes Gesicht.

„Du kannst jetzt gehen, Onkel. Aber sei in einer Stunde wieder da."

Ja, das würde ich. Diese Frau und vor allem dieses Gesicht wollte ich noch mal sehen.

Ich kam anderthalb Stunden später als geplant in den Pub. Doch Sam schien das nicht gestört zu haben. Neben ihm saß ein Mann mit Hornbrille aus den Achtzigern und langen, verfilzten Haaren. Spindeldürr, bleich, große viereckige Augen und ein Buckel. Ein Mensch, der tagelang nicht aus dem Haus gehen muss. Ein Mensch, für den die Welt in Ordnung ist, solange sein Computer läuft.

„Hey Goofy. Setz dich. Das hier is Harald."

Ich setzte mich.

„Harald is Computercrack. Ich hab ihn mal im Netz kennengelernt und seitdem hilfter mir manchmal bei meim Shop. Er kommt später noch mit zu mir."

Harald sah mich an. Beide Hände lagen auf dem Tisch und er trommelte mit den Fingern andauernd lautlos auf die Tischplatte, als ob er eine unsichtbare Tastatur bedienen würde. Vielleicht schickte er mir gerade ein Smiley.

Als mein Bier gebracht wurde, bestellte Sam für uns drei gleich noch mal eine Runde.

„Nein, ich will nicht mehr, ich muss gleich wieder los. Meine Nichten vom Ballett abholen."

Sam grinste schadenfroh, Harald schaute eher so, als wüsste er nicht, was Ballett genau war. Aber das konnte er später bei Wikipedia nachschauen.

„Warum mussu Saras Kinder abholen? Is das die Entschädigung, damit du bei ihr wohnen darfs?"

Sam wusste noch nichts von den Vorfällen am Morgen. Woher auch. Also erzählte ich ihm alles.


Das Leben ist ein Erdbeben und ich stehe neben dem TürrahmenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt