Den ganzen restlichen Tag saß ich in meinem Haus. Ich bewegte mich nicht großartig, es sei denn, ich musste etwas trinken. Dazu erhob ich mich schwerfällig und ging die paar Schritte zur nächstgelegenen Kiste. Ich fühlte mich leer. War fertig mit den Nerven. Ich versuchte eine Lösung zu finden. Ich brauchte eine Idee wie ich Bergi befreien könnte, beziehungsweise eine Verteidigungsstrategie. Aber wie? Er hatte ja gesagt, er würde die Wahrheit sagen. Aber ob er sich unter den Bedingungen noch daran halten würde? Das war doch Wahnsinn. War ihm seine Überzeugung der menschlichen Moral und der Gerechtigkeit wichtiger, als sein eigenes Leben? Wurde nicht jeder Mensch von dem Wunsch zu überleben angetrieben? Darum ging es doch: Überleben. Wir essen, um zu überleben. Wir trinken, um zu überleben. Wir pflanzen uns fort, um zu überleben. Wir arbeiten, um unser Überleben finanzieren zu können. Darum ging es doch, oder war ich im Unrecht? Gab es etwas wichtigeres? Etwas noch wertvolleres, das man in seinem Leben erreichen konnte? Der Sinn des Lebens war 42. Das wusste ich, seit ich den Film „Per Anhalter durch die Galaxis" gesehen hatte. Vielleicht ein Synonym für das berechenbare, das aber doch unberechenbar ist. 42. So simpel. Konnte es das sein? Oder gab es noch eine andere Seite? Eine, die ich langsam anfing wahrzunehmen, eine, die Bergmann mir zugänglich gemacht hatte? Ich war einfach kein Gefühlsmensch. Ich hielt meine Mitmenschen gerne auf Distanz. Doch Bergmann war derzeit im Begriff meine Distanz immer weiter zu verringern. Erst hatte mir das Angst gemacht, aber mittlerweile... auf irgendeine mir unbekannte Weise gefiel es mir. Ich mochte es, wenn ich halb auf ihm lag und er mir etwas erzählte. Ich mochte es, wenn ich in seinen Armen aufwachte, wenn er mir das Gefühl gab etwas besonderes zu sein. War das nur mein gewinnorientierter Überlebenssinn oder... war das... etwas anderes? Klar, bei ihm konnte ich in letzter Zeit gut schlafen, aber... rechtfertigte das mein Verhalten? Wie ich ihn ansah, generell wie ich ihn sah. Was er bei mir bewirkte. War das etwas kühles, berechnendes oder waren das... ehrliche Gefühle für ihn? War es etwas in diese Richtung, was ihn dazu brachte seine Ehre nicht zu verkaufen? Machte es ihn glücklich, wenn er das Gefühl hatte sich nicht zu verkaufen? Nicht für den eigenen Vorteil zu lügen? Ging es ihm eventuell nicht darum, möglichst lange zu überleben, sondern darum wie er überlebte? Dass er am Ende seines Lebens behaupten konnte, soweit es ihm möglich war nach seinen Vorstellungen von Moral gehandelt zu haben? Kein Mensch war ohne Schuld. Das war mir klar. Jeder Mensch trifft falsche Entscheidungen oder verpasst mal den richtigen Moment zum Handeln. Das war vollkommen natürlich. Aber ihn würde man als den Mann in Erinnerung behalten, der aufgrund von „sexuellem Missbrauch" und „schwerer Körperverletzung" die Todesstrafe bekommen hatte. Solange man sich gesittet verhielt wurde man nicht beachtet, beging man allerdings einen Fehle stürzte sich die sensationsgierige Menschheit auf einen. Verstand er das nicht? Das seine guten Taten, sein wundervoller Charakter, in Vergessenheit geraten würden, seine Schuld aber nicht? Oder war ihm das egal? Bedeutete es ihm nichts, was die Menschen in der Zukunft von ihm denken würden, so lange wir, seine Freunde, ihn so in Erinnerung behalten würden, wie er gewesen war? Wollte er einfach nur so sterben, wie er gelebt hatte, nämlich so, wie er es für richtig hielt?
Ich kam so nicht weiter, das brachte mich nicht voran. Wie sollte ich ihm helfen, wenn er noch nicht einmal wollte, dass ich ihm half. Langsam bekam ich Kopfschmerzen. Ich sollte mich hinlegen, vielleicht etwas schlafen, wenn es denn ging. Schnell stand ich auf, zu schnell. Es hatte meinem Kreislauf nicht gerade gut getan, dass ich die letzten Stunden nur gesessen hatte. Ich wartete kurz, bis das Schwindelgefühl verflogen war, dann setzte ich meinen Weg fort.
Doch selbst als ich im Bett lag konnte ich meine Gedanken nicht abstellen, fand keine Ruhe. Immer wieder tauchte dieses grauenvolle Bild vor meinen Augen auf. Takaishii, seine Lippen auf denen von Bergmann. Wie hatte er es wagen können! Wenn er hier nicht so viel Macht hätte wäre ich nicht so nett mit ihm umgegangen. Aber mir war ja keine Wahl geblieben. Der arme Herr Bergmann, er war doch sowieso schon vollkommen überfordert gewesen, als Takaishii auf einmal in seinem Haus gestanden hatte. Und dann das... warum hatte es das getan? Erst versuchte er mich zu beleidigen, indem er mich als „schwul" bezeichnete, nur um daraufhin selbst einen Mann zu küssen. Das machte doch keinen Sinn! Oder hatte ich etwas übersehen, gab es einen Aspekt, der mir noch nicht aufgefallen war? Zu viele Fragen, zu wenige Antworten.
Seufzend wickelte ich mich in die Decke ein. Ich schaute neben mich und, obwohl ich selbstverständlich wusste, dass er nicht da war, war ich doch enttäuscht. Ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn jetzt schon. Dabei hatte ich mir geschworen, mich nie wieder von einer Person abhängig zu machen, nie wieder jemanden so nah an mich heranzulassen. Aber noch immer war ich mir nicht sicher, was das für Gefühle waren. Trieben meine Schuldgefühle und mein Mitleid mich dazu, dass ich mich so verhielt, oder... oder hatte ich mich etwa in ihn... verliebt? Alles in mir sträubte sich gegen diesen Gedanken, doch ich wollte ihn nicht gleich verwerfen. Ich musste jetzt ehrlich zu mir sein, musste mich endlich damit konfrontieren. Ich konnte nicht länger vor meinen Gedanken weglaufen.
Aber ich wollte nicht darüber nachdenken, mein Kopf wehrte sich standhaft gegen diese Option. Verzweifelt versuchte ich mein Verhalten in Bergmanns Nähe als normal zu erklären, aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es eben nicht normal war. Es war so was von nicht normal! Es war nicht normal, dass ich nur in seinen Armen schlafen konnte. Es war nicht normal, dass ich ihm in jeder Angelegenheit kein bisschen nachtragend war. Es war nicht normal, wie wichtig mir war, was er von mir dachte. Und vor allem war es nicht normal, wie ich ihn anstarrte, sobald ich das Gefühl hatte, er würde es nicht merken. Vielleicht empfand ich ja doch mehr für ihn, als nur Freundschaft. Doch ein Teil von mir wollte es nicht wahrhaben, kämpfte mit sinnlosen Argumenten gegen etwas an, was für Außenstehende wohl schon lange vollkommen offensichtlich gewesen war.
Ich wollte mit ihm reden. Jetzt. Einerseits hatte ich ihn vorhin nach Takaishiis Aktion einfach alleine gelassen, andererseits wollte ich darauf achten was ich fühlte, wenn ich bei ihm war. Vielleicht irrte ich mich ja doch, ich war mir noch immer unsicher. Also stand ich noch einmal auf, an Schlaf war ja sowieso nicht zu denken, zog mir schnell etwas an und ging dann zu Bergmann ins Gefängnis.
Als ich mich dem Gebäude näherte kamen erste Zweifel in mir hoch. Was, wenn er bereits schlief? Was, wenn ich mich wirklich in ihn verliebt hatte? Was, wenn er mich nicht sehen wollte? Immerhin war ich schuld daran, dass er jetzt in dieser misslichen Lage war. Doch noch bevor ich mich wieder in meinen Gedanken verlieren konnte, stand ich vor der Tür. Möglichst leise versuchte ich die Tür zu öffnen, dann betrat ich den Raum. Das einzige Licht ging von einer Fackel aus, die Stimmung war düster. Ich hörte das Zischen der Schlange, Marc, so war ihr Name gewesen. Dann entdeckte ich auch Bergmann. Er saß zusammengekauert auf einem Strohballen, der in seiner Zelle stand. Wie gerne ich jetzt zu ihm gegangen wäre, mich neben ihn gesetzt hätte, ihn beruhigend in den Arm genommen hätte. Aber die Gitterstäbe hielten mich davon ab, schufen eine Mauer zwischen Bergmann und mir. Ich lief auf ihn zu, soweit es mir eben möglich war. Dann setzte ich mich vor den Gitterstäben auf den Boden. Entweder hatte Herr Bergmann mich noch nicht bemerkt, oder es interessierte ihn nicht, dass ich da war. Leise flüsterte ich seinen Namen „Herr Bergmann" Doch nichts passierte. „Hey, Herr Bergmann!" Diesmal sprach ich ein wenig lauter, und er drehte sich in meine Richtung. „Manu?" Verwundert erhob er sich und kam auf mich zu. Seine Schritte wirkten müde, langsam. Sonst lag in all seinen Bewegungen etwas dynamisches, etwas freudiges. Aber nicht heute. „Versuchst du gerade herauszufinden, wie es sich anfühlen muss, eine Schnecke zu sein?", fragte ich ihn grinsend. Doch er reagierte nicht auf meine Worte, lief weiterhin stumm die letzten Schritte über den knarzenden Holzboden bis zu mir. „Das hast du ganz richtig erkannt. Und dann werde ich mit dem Buch „Mein Leben als Schnecke" schriftstellerischen Weltruhm erlangen und reich werden." Frech grinsend schaute er mich an und setzte sich vor mir, auf der anderen Seite des Gitters, auf den Boden.
„Gemütlich hast du es hier. Da kann man nicht meckern.", sagte ich. Dann zeigte ich auf Marc. „Sogar einen Mitbewohner hast du. Ich würde sagen, das bekommt ein Nicer Dicer von mir."
Lachend schüttelte er seinen Kopf. „Und was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?"
Jetzt musste ich doch kurz überlegen. Auf einmal bemerkte ich, wie interessant das Muster des Bodens eigentlich war.
„Ich bin also eine Schnecke?" unterbrach er meine Gedanken. „Dann bist du eine Katze. Ein Streuner." Entsetzt hob ich meinen Blick und schaute ihn an. „Was?" Er schmunzelte und gab mir gleich die Erklärung:"Du bist zwischendurch richtig niedlich und anhänglich, und sobald es dir zu viel wird bist du gleich wieder weg. Wie Katzen, die erst schnurrend um einen herumlaufen bis man sie krault, und einen kratzen, sobald sie keine Lust mehr haben. Und ein Streuner, weil du immer so distanziert und misstrauisch bist. Du musst erst lernen, dass nicht alle dir etwas schlechtes wollen."
Er legte seinen Kopf schief und schaute mir in die Augen. „Und außerdem hast du dieselbe Augenfarbe wie Katzen."
Ich wich seinem Blick aus. Es machte mich nervös, wenn er mich so intensiv ansah. Als er seinen Blick wieder ein wenig von mir abwandte schaute ich ihn wieder an.
„Jetzt kann ich wenigstens ein bisschen nachvollziehen, wie du dich gefühlt haben musst."
Ich runzelte meine Stirn. Was meinte er damit?
„Das, was Takaishii vorhin gemacht hat, war fast dasselbe, was ich dir angetan habe. Nur, dass es für dich bestimmt noch schlimmer war. Hat es sich für dich auch so schrecklich erniedrigend angefühlt, gegen den eigenen Willen geküsst zu werden?"
Ich biss mir kurz auf die Unterlippe. Irgendwie hatte er Recht, dennoch war Takaishiis Aktion etwas vollkommen anderes gewesen. Herr Bergmann war nicht er selbst gewesen, Takaishii hatte aus kühler Berechnung so gehandelt, nur um mich zu provozieren.
„Es war schlimm, als du auf einmal so brutal warst. Ich habe dich davor und auch danach nie wieder so erlebt. Aber als du mich geküsst hast, das... war nicht schlimm. Und außerdem hat Takaishii aus dem Motiv heraus gehandelt mich zu provozieren, du hast das nicht geplant gehabt."
„Das war nicht schlimm?", fragte er nach.
Ich schüttelte stumm meinen Kopf. Er glaubte mir nicht. Das spürte ich. Durch das Gitter streckte ich ihm meine Hand hin und schenkte ihm ein Lächeln.
„Ich verzeihe dir. Alles."
Seine Augen weiteten sich ungläubig, dann wanderten auch seine Mundwinkel ein Stück nach oben. Zögerlich legte er seine Hand in meine und murmelte einen leisen Dank. Wir schauten uns an und strahlten um die Wette. Doch wie immer war uns kein schöner Moment vergönnt, denn in diesem Moment hörte ich Schritte, und kurz darauf öffnete sich die Tür.
Takaishii. Wer hätte es auch sonst sein können. Ich ließ Bergmanns Hand los und stand auf, stellte mich vor die Tür von Bergmanns Zelle, noch einmal würde ich Takaishii nicht die Chance geben Bergi zu nahe zu kommen.
„Oh, wie niedlich. Spielst du jetzt seinen Beschützer?", fragte Takaishii ironisch.
„Immerhin habe ich jemanden der mich beschützt. Ganz im Gegensatz zu dir.", konterte Bergi. Ich grinste ihn zufrieden an. In dem Zustand hatte ich ihn am liebsten. Damit hatte Takaishii anscheinend nicht gerechnet, denn anstatt etwas zu erwidern schnaubte er nur wütend. Dann funkelte er mich selbstzufrieden an. „Die Gerichtsverhandlung findet morgen statt. Herr Elpeh, sie werden als Zeuge aussagen. Ich bin übrigens der Richter, es wäre also klüger, wenn ihr ein bisschen respektvoller wärt. Wir sehen uns morgen wieder.", mit dieser Ansage stolzierte er davon. Ich wandte mich wieder Bergi zu. „Ich will nicht gegen dich aussagen!"
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Die zwei Seiten eines Menschen
FanfictionHallo als erstes das ist nicht meine eigene ff die habe ich auf Fanfiction. de gefunden und ich hab die fertig gelesen und sie ist echt der Hammer deswegen zeige ich euch sie viel Spaß es ist eine GLP x Herr Bergmann ( es gibt viel zu wenig aber na...