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Der Saal füllt sich immer mehr mit den Studenten und ich sehe mir jeden genau an. Was soll man sonst tun, wenn man so früh da ist? Meine letzte Vorlesung für dieses Halbjahr habe ich glücklicherweise bald hinter mir.

Wenn es nach mir ginge, würde ich mich unsichtbar machen und einfach verschwinden, aber das geht nicht einfach so. Einfach, weil ich weiter vorne sitze und jeder dieses Schauspiel verfolgen kann. Aber andererseits würde es vielleicht keiner mitbekommen, weil mich sowieso nie jemand bemerkt. Ich bin in der normalen Welt auch die Unsichtbare, nur das sie mich theoretisch sehen können, wenn sie wollen und mal mit mir reden würden. Aber das bin ich schon gewohnt. Die nächste Zeit werde ich einfach daheim bleiben und mich ausruhen. Ab und zu auf Partys, aber nur um Leute zu beobachten. Ich würde auf Partys gehen, auf die ich eigentlich nicht eingeladen bin. Aber was sie nicht wissen, kann sie nicht aufregen.

Unser Professor fängt an und es wird schlagartig ruhig. Ich fange sofort an zu schreiben und mir die wichtigsten Sachen zu notieren. Die Prüfungen, die bald anstehen, will ich nicht versauen. Ich will bestehen, damit ich bald mein Studium beendet habe und richtiges Geld verdienen kann, dass mich auch befriedigen kann. Damit ich mir auch einmal etwas gönnen kann.

Aber Geld für Freunde muss ich nicht ausgeben. Ich habe keine.

Geld für meine Familie muss ich auch nicht abgeben. Welche Familie? Ich habe mir alles selber hart verdient. Meine Eltern waren nicht für mich da, als ich mich immer mehr zurückgezogen habe, um mein Geheimnis für mich zu behalten. Die wichtigste Frage ist, ob sie das überhaupt mitbekommen haben. Sie haben sowieso nie etwas mitbekommen. Den Streit mit meinen Freunden, weil ich ihnen nicht sagen konnte, was mit mir los war.

Langfristig wird man durch so ein Geheimnis einsam. Aber was soll man machen, wenn man nicht bei Experimenten teilnehmen will, zu denen man gezwungen wird? Nicht mit mir. Nicht mit Katha.

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Fertig!

Meine Sachen habe ich schnell eingepackt und dränge mich nun durch die Menschenmasse, die alle noch reden und nicht mal den Vorlesesaal verlassen wollen. Studieren ist nicht alles im Leben.

Aber für mich schon, wenn man keine Familie oder Freunde hat. Es ist schwer. Man kann mit niemandem seine Gefühle teilen und wird langfristig verkümmern. Deswegen habe ich mir einen Kater angelegt. Damit ich nicht ganz alleine bin.

Ich wirke sicher wie eine alte, einsame Oma, die mit ihre Katzen zusammen lebt. Nur der kleine Unterschied besteht darin, dass ich keine Oma bin.

Ich bin erst 19. Und mein Geheimnis trage ich schon mindestens 3 Jahre mit mir herum. Seitdem habe ich keine Freunde und Familie mehr. Ob ich einsam bin? Ja, ich bin es. Menschen kann niemand ersetzen, auch mein Kater nicht.

Als ich endlich an der frischen Luft angekommen bin, wehen meine Haare sofort in mein Gesicht. Die Menschen finden mich komisch. Sie denken, dass ich ein Spießer wäre. Ich kann es ihnen aber nicht übel nehmen. Ich sage ständig nein zu Einladungen, bis sie aufgehört haben zu fragen.

Der Gedanke, dass ich diese Idioten jetzt längere Zeit nicht zwingend sehen muss, lässt mich lächeln. Ich werde sie vielleicht heute Abend sehen, aber sie mich nicht.

Schnell setze ich mich in mein kleines, altes Auto und starte den Motor. Er brummt auf und ich drücke auf das Gaspedal. Bald daheim. Als ich das Gelände der Uni verlasse, mache ich das Radio an und lasse die Musik ein wenig auf mich einwirken.

Musik ist noch ein Teil, den es gibt, den ich mag. Es ist noch das einzige, mit dem ich mich ablenken kann. Wenn ich das nicht hätte, würde ich schon in einer Psychiatrie sein. Aber selbst das würde nichts bringen, denn ich kann mein Geheimnis einfach nicht weitererzählen.

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