Der nächste Schlag traf meine Schulter. Ich hatte das Gefühl, dass er gar nicht so genau sah, wohin er eigentlich schlug. Hauptsache er schlug auf mich ein. Er wollte einfach irgendetwas tun. Tränen standen ihm in den Augen und er schlug immer weiter auf mich ein, weil er einfach nicht aufhören konnte. Weil er einfach verzweifelt war und konnte nicht aufgeben. Jetzt traf er meine Nase und Blut lief mir die Wange herunter.
Ich bemerkte es kaum, denn in dem Moment klingelte es an der Tür. Nein, Nein, Nein. Das durfte sie noch nicht sein.Sie war viel zu früh. „Na, ist das deine Kleine? Na los, geh schon zu ihr, oder willst du nicht, dass sie dich so sieht?", schnaubte er. „Denkst wohl, du wärst was besseres. Aber du machst dir was vor. Du bist nicht besser als ich. Du bist genau wie ich.".
Er war auch durch das Klingeln abgelenkt worden und das nutze ich für mich und löste mich aus seinem Griff mit einen geschickten Ruck. Bevor er mich wieder in die Hände bekam, lief ich aus dem Raum und zur Haustür.
Und dort stand Anna. Ihr Blick hatte einen besorgten Ausdruck, wie immer wenn sie bei mir Zuhause war. Ich nahm ihre Hand und lief mit ihr außer Sichtweite der Hauses. Sie fragte nicht, sondern verstand sofort. Sie vertraute blind und folgte sofort. Am liebsten wäre ich ewig so gelaufen. Mit ihr an meiner Seite, einfach weg von allem. Doch es war nicht fair, denn ihr besorgter Blick blieb.
Vielleicht hatte er ja recht und ich würde so wie er werden? Das könnte ich ihr nie antun. Oder hatte ich das bereits?
Es war gegen Nachmittag, als ich die Autobahn verließ und in die kleine Ortschaft „Webersen" fuhr. Der Stadt bestand nur aus ein paar Tausend Einwohnern. Ich kannte jede Straße und jeden Laden. Es war der Ort, in dem ich aufgewachsen war.
Der Anruf war gegen Mittag gekommen. Meine Mutter sorgte sich wieder um meinen Vater. Sie waren schon seit ein Paar Jahren getrennt, aber der Sheriff der Stadt rief immer noch sie an, statt mich. Hin und wieder kam sie auch noch, aber nur selten.
Nach nur drei Straßen, bog ich in eine Einfahrt ein. Das Gebäude, was sich vor mir erstreckte war aus roten Backsteinen erbaut und trug eine morsche Holztafel über den Eingang mit Schriftzug „Polizeistation Webersen". Das Haus war bestimmt schon mehrere Jahrhunderte alt und beherbergte inzwischen nur noch eine kleine Wache mit ein paar einfachen Zellen. Seufzend stieg ich aus und machte mich auf in Richtung Eingangstür.
Kaum hatte ich den Gebäudekomplex betreten, begrüßte mich auch schon unser alter Dorfpolizist: „Christopher! Schön, dich zu sehen." Höflich antwortete ich ihn: „Guten Tag, Tom. Na, was hat er diesmal angestellt?"
„Das übliche. Kneipenschlägerei. Wollte 'nem anderen das Geld klauen. Moment, ich hole ihn mal, aber ich glaube er schläft noch. Wir wollten ihn erst mal nüchtern werden lassen. Geh schon einmal nach hinten und erledige den Papierkram. Kennste ja.", grummelte er. Der Polizist war ein bisschen schrullig, aber wirklich herzensgut. Er drückte gerne auch mal ein Auge zu, aber war immer helfend zur Stelle gewesen, wenn er gebraucht worden war.
Ich folgte einem seiner Kollegen in den hinteren Teil des Hauses und unterschrieb einige Formulare. Als ich fertig war, saß auch schon mein Vater vor dem Ausgang. Als ich ihn begrüßte, blickte er kurz hoch, doch grunzte nur etwas unverständliches.
Ich sprach den Polizisten noch kurz meinen Dank aus und hing dann dann zurück zu meinem Wagen. Mein Vater folgte mir schweigend.
Es war inzwischen beinahe zur Gewohnheit geworden, dass ich mindestens einmal pro Monat nach Webersen fahren musste und ihn aus dem Gefängnis abholte. Es ging meistens nicht um viel, oft Kneipenschlägereien, Geschwindigkeitsüberschreitungen oder, darum, dass sie ihn betrunken und schlafend irgendwo gefunden hatten. Es war nur eine Kleinstadt und sie kannten ihn gut, also bekam er beinahe nie eine große Strafe, aber sie bestanden darauf, dass ihn jemand abholte, Formulare ausfüllte und nach Hause fuhr. Er bedankte sich nie, höchstens grummelte er ein paar Worte, aber es war nun einmal meine Pflicht, auch wenn nicht ihm gegenüber, aber ich tat es für meine Mutter.
Ich war froh, dass es diesmal so schnell gegangen war und die Polizisten mich nicht in ein längeres Gespräch gewickelt hatten. Ich wäre sehr froh, wenn ich Webersen schnell wieder im Rückspiegel sehen würde.
Wenige Minuten später hielten wir vor seinem Haus.
Hier hatte ich mehrere Jahre meines Lebens gewohnt. Es war seltsam vertraut, aber auch seltsam fremd. Jedes Mal, wenn ich es sah, überkamen mich Erinnerungen, aber es fühlte sich nicht heimisch an.
Ich stellte den Motor aus und begleitete ihn ins Haus.
Mein Vater ging zielstrebig zum Fernseher, schaltete ihn und setzte sich in den Sessel, der direkt davor stand.
Es kam Fußball, doch es spielte nicht mal eine Mannschaft, die er mochte. „Dad? Ich fahre dann wieder, okay?". Er guckte kurz zu mir, nickte und starrte wieder auf den Fernseher.
Ich hatte mich schon zum gehen gewandt, als ich mich noch einmal kurz umdrehte und sagte: „Dad? Willst du nicht etwas sagen?". Aber er sagte nichts. Er schwieg weiter. Ich zuckte die Schultern und verließ das Haus.
Ich konnte ihm nicht helfen. Ich hatte es versucht, oft sogar. Doch er hatte meist nur geschrienen oder schlimmeres.
Seitdem ich ausgezogen war, lies er mich jedoch in Ruhe. Er war anders geworden, nachdem meine Mutter ihn verlassen hatte. Naja, er war schon vorher hatte er sich schon verändert, schließlich hatte sie ihn wegen seines Verhaltens verlassen. Doch danach war es noch schlimmer geworden.
Ich verließ den Ort und freute mich darauf, wieder in meine eigene Wohnung zu fahren.
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So, ein kleiner Exkurs in einen Teil von Chris' Leben. Seid ihr verwirrter, als am Anfang oder habt ihr immer noch klare Ideen? Oder vielleicht noch klarere?
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Always twice in a lifetime
General FictionSanft umfasste er ihren Kopf. Einen Geruch von Vanille umgab ihn. Kurz vor ihrem Lippen stoppte sein Mund. Sie hatte am ganzen Körper Gänsehaut, denn eine süße Vorahnung, was sie als nächstes erwarten würde überkam sie. Sie fühlte bereits seinen wa...