Eingesperrt

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Früher. Früher war alles anders. Wie oft haben wir das schon gehört? Oft genug. Aber es ist nun einmal so. Früher war alles anders. Früher war ich anders. Aber heute, da habe ich mich verändert. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt. Ich habe es erreicht, aber dann bin ich wohl doch zu weit gegangen. Ich wollte die Beste sein! Nur ein einziges Mal wollte ich die Aufmerksamkeit aller spüren. Die Blicke über mich gleiten sehen, gepaart mit einem Lächeln und einem ermunterndem Kopfnicken. Und vielleicht, ja vielleicht einmal die Worte hören: "Gut gemacht."
Aber das bekam ich nicht. Es reichte nie für den ersten Platz. Egal, was ich auch versuchte, es brachte nichts. Es tat zwar weh aber mit der Zeit stumpften meine Gefühle sich ab und nun saß ich hier, auf läppischen zwölf Quadratmetern und einer sehr spärlichen Einrichtung. Für immer versteckt vor der Gesellschaft und dem alltäglichen Leben. Für immer eingesperrt und verhasst...

Eine Stimme riss mich aus den Gedanken: "Na, wie fühlt man sich so auf solch engem Raum? Kommt dem Leben eines eingesperrten Kampfhundes sehr nahe, nicht wahr?" Ausgestreckt lag ich auf meiner kleinen Pritsche. Eigentlich hatte ich keinen Besuch erwartet. Aber ich wollte auch nicht unhöflich sein, so richtete ich mich auf und sah mein Gegenüber an. Mein Bruder Jason stand mit leicht zur Seite geneigtem Kopf hinter der dicken Glaswand und musterte mich. In seinem Gesicht las ich sowohl Verachtung, als auch pure Neugier. Ich hob zu einer Begrüßung an: "Guten Morgen, Jason. Um ehrlich zu sein, bin ich etwas gelangweilt, aber ansonsten ist es auszuhalten. Und wie steht es mit dir, kleiner Bruder?" Er wendete kurz den Blick ab: "Es ist ziemlich kalt draußen. Ich war gerade unterwegs und habe Weihnachtsgeschenke besorgt." "Weihnachten, ja... Hier kommt man sehr leicht aus dem Rhythmus, was das Datum angeht. Ich man dir weder sagen, welchen Wochentag wir haben, noch welche Uhrzeit oder Jahreszeit..." "Wir haben den 19. Dezember. Es ist Montag, circa zehn Uhr in einem ziemlich heftigen Winter.", erklärte Jason. Ich blinzelte: "Vielleicht kann ich ja eine Karte schicken. Bedaure, aber wie schon in den vergangenen zehn Jahren kann ich dir beim Weihnachtsfest leider keine Gesellschaft leisten." "Das war mir klar, aber ich dachte, ein Besuch würde dich glücklich machen. Auch wenn du nicht mehr wirklich Glücksgefühle empfinden kannst." "Ich kann noch Glücksgefühle empfinden, Jason. Ich kann noch sämtliche Gefühle empfinden, besten Dank. Aber du bist doch nicht nur hier, um mich etwas glücklicher zu sehen. Das sehe ich dir an. Sag mir, warum du wirklich hier bist." Jason wand sich, das sah ich ihm an. Schließlich senkte er den Kopf. Das verhieß nichts Gutes: "Es geht um unsere Tante - Sie ist kürzlich verstorben, bei einem Autounfall." Mit desinteressiertem Gesichtsausdruck nickte ich. Innerlich versetzte es mir einen mehr als fiesen Stich. Aber Äußerlich ließ ich mir nichts davon anmerken. Jason fragte: "Geht es dir gut?" Ich schloss kurz die Augen. Dann lächelte ich meinen kleinen Bruder an: "Sicher. Warum nicht?" "Sie war dir doch so wichtig." "Ja, das war sie. Aber das bringt sie auch nicht wieder hierher. Sind sie alle tot?" "Ja. Tante, Onkel, Cousin - Keiner von ihnen ist mehr am Leben." Wieder nickte ich: "Sie haben sich nicht gerade die Beste Zeit zum Sterben heraus gesucht..." Nun wurde Jason böse: "Findest du das etwa witzig?" "Möglich wäre es. Das macht die Sache leichter, glaub mir. Du solltest die Sache auch mal etwas mehr mit Humor betrachten. Dann lässt es sich leichter damit umgehen.", riet ich. Jason schüttelte den Kopf und trat dichter an die Glasscheibe heran: " Wenn Mama und Papa wüssten, wie du redest..." "Das braucht die beiden nicht zu interessieren. Immerhin sind sie auch schon lange tot." "Hast du jemals getrauert?", fragte er vorwurfsvoll. Ich nickte: " Früher." Jason wendete sich ab, wollte wohl gehen. Ich fragte: "Wie geht es deiner Frau und meinem kleinen Neffen?" Jason sah mich an und seine Augen funkelten böse: "Ich warne dich, Lena: Lass meine Familie in Ruhe! Du wirst keinen der beiden jemals zu Gesicht bekommen!" "Findest du nicht, dass ich irgendwie ein Recht darauf habe? Immerhin trägt der Junge unser Blut in sich. Deines und auch zum Teil meines..." "Meines! Und das seiner Mutter! Aber deines ganz bestimmt nicht! Auf wiedersehen und frohe Weihnachten, Lena." "Für den Augenblick. Früher oder später wirst du eh wiederkommen. Aber es war wie immer schön, mit dir zu sprechen, kleiner Bruder. Liebe Grüße von mir an deine Familie." Die Gittertür knarrte und er war verschwunden. Noch einige Sekunden verharrte ich, dann drehte ich mich um, legte mich wieder auf meine Pritsche und schloss die Augen. Früher. Früher war alles anders. Da war ich eine andere Lena, voller Zuversicht und mit komplett anderen Moralvorstellungen. Aber wann genau hatte ich mich eigentlich verändert?

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