Feind und Freund

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Als wäre das Gespräch mit meinem Bruder nicht schon schlimm genug gewesen, kam nun auch noch Dr. Chilton mit seiner täglichen Dosis Provokation und vergeblichen Folterversuchen. Ich hatte mich mittlerweile von meinem Gefühlsausbruch vorhin wieder erholt und saß aufrecht auf meiner Pritsche. Ich blätterte gerade in meiner zerfledderten Ausgabe von "Maria Stuart", da vernahm ich auch schon den widerlichen Geruch und die dazu passende widerliche Stimme des Anstaltsleiters: "Sagen Sie mal, Dr. Brautigan, was hat Ihren Bruder denn so in Rage versetzt? Ich hörte ihn bis in mein Büro brüllen..." Eigentlich wollte ich mich gar nicht erst auf ein Gespräch mit ihm einlassen, doch meine guten Manieren zwangen mich dazu. So legte ich ordentlich mein Buch zur Seite und richtete mich auf: "Guten Abend, Dr. Chilton. Nun, mein Bruder hat allen Anschein nach ein Problem damit, dass ich Konversationen mit meinem... Neffen führe." Dr. Chilton neigte leicht den Kopf: "Sie haben leicht gezögert, als Sie von Ihrem Neffen sprachen... Wie muss ich das verstehen?" Ich hatte in diesem Moment so viele Sätze im Kopf, um ihn zu demütigen, doch ich blieb bei dem schlichten: "Ich denke nicht, dass Sie meine familiären Angelegenheiten interessieren sollten, Dr. Chilton." Er rümpfte die Nase. Das machte er immer, wenn ich ihm nicht die Antworten gab, die er hören wollte. Dann sagte er: "Ich möchte nicht, dass hier tagein und tagaus irgendwelche Ihrer Familienangehörigen ankommen und eine solche Show abziehen! Haben Sie verstanden?" "Klären Sie das mit meinem Bruder, Dr. Chilton. Ich bin die Ruhe selbst geblieben..." Er fuhr sich durch die Haare. Dadurch glänzte seine Hand noch mehr. Wie sehr ich ihn doch verabscheute! Er funkelte mich an: "Glauben Sie ja nicht, dass ich tagtäglich Leute zu Ihnen lassen werde, Dr. Brautigan! Sie sind hier immerhin nicht zum Spaß!" "Ich denke, es gibt schönere Orte, da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Vielleicht sollten Sie hier mal etwas umgestalten, Ästhetik hineinbringen... Selbstverständlich etwas, das zu dieser Umgebung passt. Ich schlage "Der Schrei" von Edvard Munch vor, was denken Sie?" Er schnaubte empört und ging davon. Ich zuckte mit einer Augenbraue. Keine Bestrafung? Was war los mit ihm? War er vielleicht krank? Ich bestand zwar nicht unbedingt darauf, dennoch wunderte es mich. Kopfschüttelnd kehrte ich zu meiner Lektüre zurück. Heute war wirklich einiges los hier! Mehr als sonst auf jeden Fall...

In dieser Nacht konnte ich noch weniger schlafen als sonst. Meine Gedanken kreisten ständig um Jasons Wutausbruch und Philips Tat. Ich war so stolz auf meinen Sohn! In diesem Moment wünschte ich mir wieder einmal mehr denn je, ihm das einmal zu sagen.
Eine raue Stimme riss mich aus den Gedanken: "Dr. Brautigan, die anderen Insassen würden gerne zur Ruhe kommen. Darf ich das Licht ausschalten oder wollen Sie noch etwas lesen?" Ich setzte mich aufrecht. Barney stand vor meiner Zelle und sah mich erwartungsvoll an. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, fragte ich bereits: "Haben Sie vorher noch ein paar Minuten Zeit, mir eine Frage zu beantworten, Barney?" Er nickte und griff nach dem Stuhl: "Solange es hier ruhig ist, habe ich Zeit für Sie, Doktor. Was gibt es?" Ich stand auf und schritt zu dem auf dem Boden angeschraubten Holzstuhl. Ich behielt den sanften Pfleger die ganze Zeit im Blick: "Barney, ich denke, Ihnen kann ich vertrauen... Das kann ich doch, oder?" "Nach all den Jahren und den vielen Gesprächen, glaube ich schon." Ich holte tief Luft: "Vorhin hat mein Bruder hier ja für ziemlichen Wirbel gesorgt. Haben Sie das mitbekommen?" "Um ehrlich zu sein, ich wäre fast dazwischen gegangen. Nach all den Jahren ist Ihr Bruder noch feindseliger als sonst. Ich möchte keineswegs aufdringlich sein, aber darf ich fragen, warum?" Ich mochte Barney. Er war höflich und mir auf Anhieb sympathisch. Er war nicht so gehetzt wie die anderen Pfleger. Wann immer er die Zeit fand, unterhielten wir uns über die verschiedensten Themen. Ich war schon fast so weit, ihn als einen Freund zu betrachten.
Ich sah ihn eine Weile an, dann erklärte ich: "Es ist ziemlich kompliziert... Jason hat ein Problem damit, dass ich meinen Kontakt zu Philip pflege. Er hat die Sorge, ich würde ihm den Jungen wegnehmen, doch vergisst er dabei das wesentliche: Philip ist nicht sein Sohn." Barney runzelte die Stirn: "Ist er nicht?" Ich schüttelte den Kopf: "Nein. Philip ist... mein Sohn." Nun stutzte er: "... Ihr Sohn, Dr. Brautigan? Weiß der Junge das?" "Nein. Und er darf es auch noch nicht erfahren. Dabei müssen Sie mir helfen, Barney. Bitte." Er überlegte erst, dann nickte er kurz: "Gut. Aber irgendwann muss er es wissen!" Ich wendete den Blick ab, starrte an die Decke: "Wird er es akzeptieren, was denken Sie?" "Wenn Sie ihm das Problem schildern, wird er es vielleicht irgendwann nachvollziehen können. Den Eindruck machte er auf jeden Fall auf mich... Was ist eigentlich mit seinem Vater, wenn ich mal fragen dürfte?" Ich seufzte leise: "Dr. Lecter ist sein Vater. Doch der war für lange Zeit weg, daher gab ich den Jungen in die Obhut meines Bruders, bevor ich hierher kam. Ich hoffte, Dr. Lecter würde eines Tages zurückkehren, damit ich ihm endlich von Philip erzählen könnte." "Und nun ist er wieder hier... Wie hat er auf diese Nachricht reagiert?" "Erst war er logischerweise geschockt. Doch nun wirkt er relativ glücklich und im gewissen Maße stolz." Barney lächelte leicht: "Das kann ich mir vorstellen. Bei so einem guten Jungen wie Philip wäre ich auch stolz..." "Ich würde ihn so gerne einmal in den Arm nehmen, mich für all diese Unannehmlichkeiten entschuldigen..." Barney erhob sich: "Sie wissen, dass das nicht gehen wird. Das wird Dr. Chilton nicht zulassen..." Ich richtete meinen Blick auf ihn und fragte: "Würden Sie es zulassen, Barney? Würden Sie es zulassen, dass ich ihn einmal in meiner Arme schließe? Nur für einen winzigen Augenblick?" In diesem Moment begann einer meiner Zellennachbarn kehlig zu schreien und zu wimmern. Barney warf mir einen Blick zu: "Entschuldigen Sie mich, Dr. Brautigan - Die Arbeit ruft..." "In der Tat, es ist nicht zu überhören. Vielleicht können wir diese Konversation demnächst mal zuende führen... Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Barney. Ich bin Ihnen sehr verbunden." Er lächelte leicht: "Ich danke Ihnen, dass Sie so offen mir gegenüber waren, Doktor. Und selbst, wenn ich es eigentlich tun müsste - Ich werde Dr. Chilton nichts hiervon erzählen. Versprochen."
Mit diesen Worten eilte Barney den Gang hinunter. Ich legte mich auf meine Pritsche und schloss die Augen. Kurz darauf hörte ich Barney mit dem betroffenen Insassen flüstern, bis nur noch ein leises Wimmern zu hören war. Damit und mit einem letzten Gedanken an Hannibal und Philip - meiner Familie - schlief ich schließlich doch noch ein...

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