Florenz

80 0 0
                                    

Ich öffnete die Augen und zum wahrscheinlich hundertsten Mal musste ich mich erst einmal orientieren, wo ich war. Mir fielen die vielen Gemälde an der Wand auf und ein Blick aus dem Fenster verriet mir: Ich war in Florenz.
Ich stand auf und rieb mir die Augen. Dabei seufzte ich einmal tief. Was war nur geschehen? Was hatte mich so weit getrieben?
Ich schlich die elegante Treppe hinunter und ging in die Küche, aus der ich bereits Gelächter vernahm: "Das ist tatsächlich zu komisch! Der arme Jack Crawford... Der kann suchen, bis er schwarz wird - Mich wird er nicht finden!" "Lena, ich muss sagen, ich bin wirklich sehr stolz auf dich. Du hast dich wirklich gemausert in all den Jahren, deine Haftzeit schien dich noch stärker gemacht zu haben..." "Nein Hannibal. Das waren einzig und allein die Gedanken an dich und Philip, die mich stark machten." Ich öffnete die Tür: "Guten Morgen.", murmelte ich dabei. Meine Mutter lächelte breit: "Guten Morgen, Philip. Wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?" Nachdenklich setzte ich mich meinem Vater gegenüber auf den Stuhl und betrachtete die dampfende Tasse Kaffee, die Lena mir vor die Nase stellte: "Es ist immer noch etwas ungewohnt für mich. Aber langsam wird es besser..." Hannibal neigte den Kopf zur Seite: "Das wird schon werden. Deine Mutter kennt das bereits - Am Anfang wirkt es grausam. Aber danach bist du glücklich darüber." Ich richtete meinen Blick auf ihn und erkannte meine eigenen blauen Augen: "Mich macht es glücklich, dass ich endlich die Wahrheit kenne." Ich spürte Lenas Hände auf meinen Schultern: "Ich wollte nie, dass es soweit kommt..." Ich sah zu ihr auf: "Ist schon gut, Mum. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Viel eher, denke ich, sind... Jason und... Loreen schuld. Sie hätten es mir sagen müssen." Lenas Augen glitzerten, als sie ihre Hand an meine Wange legte und flüsterte: "Du bist so verständnisvoll! Womit..." Sie drehte sich abrupt weg und kehrte zum Herd zurück. Ich hörte sie schluchzen. Ich wollte aufstehen und zu ihr gehen, doch Hannibal legte seine Hand kurz auf meine und formte mit den Lippen: "Lass sie. Sie muss die Sache erst einmal verarbeiten..." Dann hob er die Stimme: "Philip, stell dir vor: Das FBI verzweifelt an der Suche nach uns." Ich nippte erstaunt an meiner Tasse: "Tatsächlich?" Er nickte und schlug erneut die Zeitung auf: " 'Auch wenn Special Agent Crawford es eher ungern zugäbe, so gäbe es einfach keine Anhaltspunkte, die für eine erfolgreiche Suche nötig gewesen wären, erklärte der Sprecher des FBI-Agenten.' Weißt du, was das heißt, mein Junge?" Ich sah ihn fragend an: "Nein, was denn?" Er grinste plötzlich zynisch: "Wir können mit deiner Ausbildung fortfahren. Du bist noch nicht fertig, denke ich." "Ist das wirklich so schlau?", fragte ich. Dann stellte Lena mir plötzlich einen Teller mit Frühstück auf den Tisch: "Wenn dein Vater meint, es geht, dann geht es auch. Er ist... ich finde keinen passenden Ausdruck dafür..." Hannibal lächelte meine Mutter an: "Vielen Dank für das Lob, Lena. Ich fühle mich geschmeichelt." Ich sah genau, dass sie rot wurde. Auch ich musste nun lächeln. Eigentlich konnte ich mich total glücklich schätzen! Ich hatte eine Familie, ein Dach über den Kopf und würde demnächst keine weiteren Schwierigkeiten haben. Was wollte ich mehr? ...

Abends saß ich an meinem Schreibtisch. Plötzlich klopfte es an der Tür: "Ja?" "Hallo, mein Schatz. Dein Vater und ich wollen in die Oper. Möchtest du mitkommen?" Ich drehte mich um. Meine Mutter lehnte im Türrahmen und sah mich fragend an. Mein Blick glitt unweigerlich einmal kurz über ihr sandfarbenes Kleid und die dazu passenden Sandalen: "Du... siehst... atemberaubend hübsch aus, Mum...", murmelte ich anerkennend. Sie nickte leiht verlegen: "Hannibal hat mir dies geschenkt..." "Darin siehst du noch viel schöner aus als in der Anstaltskleidung!" Sie lachte kurz auf: "Du alter Schmeichler! Das hast du eindeutig von deinem Vater..." Sie kam drei Schritte näher ins Zimmer, dann fragte sie erneut: "Möchtest du nun mitkommen oder lieber hier bleiben?" Ich überlegte kurz: "Ich denke, dass du und Dad... ihr solltet euch einen schönen Abend zu zweit machen. Das liegt nun bestimmt schon etliche Jahre zurück..." Lena klang für einen kurzen Moment abwesend: "Ja... achtzehn Jahre... Bist du sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?" Ich lächelte leicht: "Nein. Ich möchte meinen Text noch beenden und dann vielleicht noch einen kleinen Spaziergang machen. Dann ist für heute Schluss." Sie nickte bedächtig: "In Ordnung." Sie drehte sich um und ging weg. Ich rief ihr noch hinterher: "Ich wünsche euch viel Spaß!" Ich drehte mich wieder um und klappte meinen Laptop auf. Einen Moment starrte ich den flimmernden Bildschirm an, dann begann ich:

"Dies hier ist eine Geschichte. Aber keine x-beliebige, nein, dies ist MEINE Geschichte. Und sie ist auch nicht ausgedacht - Sie beinhaltet die komplette Wahrheit über mich und die letzten achtzehn Jahre..."

Nach gut zwei Stunden beendete ich vorläufig mein Vorhaben. Ich konnte den Text auch ein anderes Mal beenden. So stand ich auf, schlüpfte in meine Schuhe und ließ mein Messer in der Innenseite meines Jacketts verschwinden. Mein Vater hatte darauf bestanden, dass ich es immer bei mir trug, falls etwas geschehen sollte.
Die Luft draußen war immer noch angenehm warm. Eine leichte Brise strich durch meine Haare, als ich den Blick gen Himmel hob und die feuerrote Sonne betrachtete, die langsam unterging. Dieses Schauspiel liebte ich seit jeher, der Übergang zwischen Tag und Nacht. Mit dem Blick stets nach oben gerichtet lief ich los. Doch schon nach kurzer Zeit stieß ich gegen einen leichten Widerstand und erschrak: "Verzeihung...", murmelte ich, dann stockte mein Atem. Vor mir stand eine junge Frau, ich schätzte sie ungefähr in meinem Alter. Ihre blonden lockigen Haare fielen Strähnenweise in ihr zart rosanes Gesicht und bedeckten teilweise ihre laubgrünen Augen. Ich war sofort total hin und weg: "Gefällt Ihnen das Schauspiel am Himmel so sehr, dass Sie gar nicht mehr auf Ihre Umgebung achten?", fragte sie mit glockenheller Stimme. Mit einem weiteren Luftstrom - Wind konnte man es nicht nennen - wurde ihr Duft zu meiner Nase getrieben. Gierig atmete ich tief ein, wollte diesen Duft niemals wieder vergessen. Ich murmelte: "Ich... ich mag Sonnenuntergänge... Ich bitte nochmals um Verzeihung..." Sie runzelte die Stirn: "Kennen wir uns?" Ich schüttelte verneinend den Kopf und sie fragte: "Dürfte ich vielleicht den Namen des Mannes erfahren, der mich so anrempelt?" Sie schien ein gewisses Feuer in sich zu tragen. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken: "Ich... Mein Name lautet Anthony... Anthony Fell." Meine Eltern hatten mir geraten, Fremden meinen Zweitnamen zu nennen, da dieser auch auf meinem Pass stand. Ich war nur noch Zuhause Philip - In der Öffentlichkeit hieß ich ab jetzt Anthony: "Fell? Etwa wie der berühmt berüchtigte Dr. Andrew Fell?" "Genau. Dieser ist mein Vater." "Was Sie nicht sagen...Das ist ja höchst interessant..." "Dürfte ich denn auch den Namen der reizenden jungen Dame erfahren, die mich mit ihrer Schönheit schon jetzt total in ihren Bann gezogen hat?", fragte ich spielerisch. Sie grinste: "Sagen Sie das zu jeder Frau?" "Nein. Sie sind bisher die erste. Und ich denke, dass sich diese Tatsache demnächst nicht mehr ändern wird..." Ihre Augen funkelten: "Ich bin Chiara. Chiara de Sevilla." "Nun denn, Signorã de Sevilla - Es war mir ein hehres Vergnügen, Sie kennenlernen zu dürfen..." "Die Freude liegt ganz bei meinerseits, Signõre." Ich wollte nicht, dass sie ging. Womöglich hätte ich sie so schnell nicht wiedergesehen. Daher nahm ich kurz ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken: "Würden Sie mir vielleicht die Ehre erweisen und mich etwas bei meinem Spaziergang begleiten? Ich bin noch relativ neu hier in Florenz und würde mich freuen, wenn Sie mir etwas die Gegend zeigen könnten, damit ich mich nicht verlaufe..." "Oh, Sie Armer... Aber weil Sie so charmant gefragt haben, willige ich gern ein..." So hielt ich ihr den Arm hin, sie hakte sich bei mir unter und wir schlenderten gemeinsam durch die immer leerer werdenden Straßen von Florenz...

You are mine!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt