Der Chesapeake Ripper

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In der Zwischenzeit...

Da war man wieder Zuhause und erlebte bereits die ersten Disharmonien! Ich wollte doch nur ins Theater gehen und einen entspannten Nachmittag verbringen!
Ich schnitt das Seil durch und der Leichnam krachte auf den Boden. Er hatte schon auf der Bühne am Galgen gehangen. Doch er hatte es sehr schlecht inszeniert und so musste ich ihm wohl oder übel demonstrieren, wie man sich am Galgen verhielt.
Ich drehte die Leiche auf den Rücken und schnitt ihm gekonnt die Zunge heraus. Sie würde um Spargel gewickelt bestimmt ein hervorragendes Abendessen abgeben!
Ich sah mich in der spärlichen Wohnung des Schaustellers um. Dort stand ein CD-Player. Daneben lag eine CD mit klassischer Musik. Ich zog mir die blutigen Handschuhe aus und angelte ein zweites paar aus meiner Hosentasche. Ich streifte diese über und legte die CD ein. Sofort war die Luft von Bachs "Toccata" erfüllt. Jenes Stück war zu hören gewesen, als der Mann auf dem Boden im Spiel gehängt wurde. Ich sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm herunter: "So stellt man das Erhängen dar!" Mir gefiel es in dieser Wohnung überhaupt nicht! Ich fand keinerlei Ästhetik und selbst die Musik konnte mir nicht helfen. Meine Stimmung war momentan komplett ruiniert.
Ich verpackte die Zunge und ließ sie in meiner Tasche verschwinden. Dann zog ich mir den Hut ins Gesicht und verließ diese Wohnung. Ich schlenderte zu meinem Wagen und fuhr los. Baltimore hatte sich kaum verändert in den letzten siebzehn Jahren. Hier und da hatten einige Geschäfte den Besitzer verändert, doch sonst blieb alles gleich. Aber die Schule war mir neu! Meine Gedanken wanderten zum heutigen Vormittag, zu dem Jungen auf dem Schulhof. Er hatte mich gesehen. Er hatte meinen Blick erwidert. Er erinnerte mich an meinen Schützling, infolgedessen auch an mein Versprechen, welches ich nun dringend einlösen musste! Und zwar schnell! Der National Tattler war bereits wieder auf mich aufmerksam geworden. Und nach all den Jahren schienen diese Langweiler den Sinn meiner sogenannten "Verbrechen" immer noch nicht erkennen zu wollen. Aber was erwartete ich auch?
Während der Fahrt flammte immer wieder dieser Junge vor meinem inneren Auge auf. Er hatte wirklich große Ähnlichkeit mit ihr! Ich fragte mich nur, warum sie es mir nie gesagt hat. Warum hatte sie es mir damals verheimlichen wollen? Das würde ich wohl bald herausfinden. Aber erst später, denn ich musste noch etwas wesentliches verschwinden lassen. Es schickte sich nicht, mit anderer Leute Zungen durch die Gegend zu wandern. Und auf eine Inhaftierung hatte ich beileibe keine Lust. Also fuhr ich erst nach Hause. Dort blinkte bereits das Licht auf meinem Anrufbeantworter. Ich verstaute die Tüte im Kühlschrank und lauschte dann der Aufnahme des entgangenen Anrufs:

"Guten Tag, Dr. Lecter. Hier ist Principal Gordon von der Baltimore High. Ich habe alles abgeklärt und Sie können bereits morgen den Unterricht in der 11b beginnen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag. Den Lehrplan schicke ich Ihnen per Mail. Vielleicht sollten Sie sich etwas in die Lektüre einlesen, wenn diese Ihnen nicht schon bekannt ist. Wir sehen uns dann morgen im Lehrerzimmer."

Na, das waren doch gute Nachrichten! Wenigstens das hatte funktioniert! Dann musste ich nicht mehr dauernd im Gebüsch stehen. Das wirkte sowieso ziemlich komisch auf die Schüler. Und zu einem von ihnen wollte ich nun einmal Vertrauen aufbauen.
Ich fasste einen Plan für den Rest dieses Tages. Nachher würde ich mein Versprechen einlösen und mich danach der Vorbereitung des Unterrichts morgen widmen. Ich hoffte nur, dass ich die richtige Klasse erwischt hatte. Sonst wäre mein Plan gescheitert...

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