Verwunderung

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Dr. Lecter kam einen Schritt näher auf mich zu und senkte seine Stimme: "Du liebst einen wahnsinnigen Serienkiller?" "Er ist nicht wahnsinnig.", hauchte ich. "Er ist genial, der intelligenteste Mann, den ich kenne. Und dafür bewundere ich ihn." Er kam noch etwas näher, in seinen blauen Augen spiegelte sich der Vollmond, auch wenn er den Hut noch auf hatte: "Erkennst du nicht die Gefahr, die von ihm ausgeht?" Ich schüttelte den Kopf: "Er wird mir nichts tun. Und das, weil ich weder unhöflich bin, noch Regeln breche." Er nickte: "Würdest du zu mir sagen: 'Hören Sie auf! Wenn Sie mich lieben, dann hören Sie auf!'?" "Wieso sollte ich? Sie sollen nicht aufhören, Sie sollen so bleiben, wie Sie sind, Doktor. Und wissen Sie auch, warum? Ganz einfach - So wie Sie sind, in genau das habe ich mich verliebt. Dieses bedrohliche, moralisch verwerfliche an Ihnen, was dennoch eigentlich gute Absichten sind. Bleiben Sie, wie Sie sind, ich bitte Sie. Denn genau das liebe ich." Seine Augen funkelten. Er stand direkt vor mir, beugte sich etwas zu mir herunter. Seine Hand lag immer noch an meiner Wange, sein Daumen strich über die Haut. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte, während er flüsterte: "Du machst einen großen Fehler." "Nein.", hauchte ich. "Ich hätte einen Fehler gemacht, wenn ich es Ihnen nicht gesagt hätte." Und einmal wechselte ich vom 'Sie' zum 'Du'. Für diesen einen Moment vergaß ich Formalitäten und, dass er mein Mentor war: "Ich liebe Dich." Mehr konnte ich nicht mehr sagen, denn seine Lippen umschlossen bereits die meinen und brachten mich abrupt zum Schweigen. Meine linke Hand wanderte zu seinem Gesicht und schob ihm leicht den Hut vom Kopf, der gegen meine Stirn drückte. Lecter lachte leise, löste sich aber nicht von mir. Meine andere Hand verkrallte sich in seinem Rücken und für diesen Moment, ja für diesen einen Moment gehörte er mir. Und solange wir hier waren, konnte ihn mir niemand mehr wegnehmen! ...

"Lena? Bereit für Ihre wöchentliche halbe Stunde Bewegung?"
Barneys Stimme riss mich aus meinen Gedanken und Erinnerungen. Ich öffnete die Augen und blinzelte: "Guten Morgen, Barney. Wie jede Woche freue ich mich sehr darauf, mal einen größeren Raum zu betreten." "Dann wirst du dich bestimmt auch darüber freuen, dass du schon wieder Besuch bekommst.", verkündete Dr. Chilton. Während Barney mir Jacke und Maske anlegte, wurde ich hellhörig. Schon wieder Besuch? In mir keimte etwas Hoffnung auf. ER hatte mir versprochen, mich besuchen zu kommen. Würde das nun endlich einmal passieren? Als hätte Dr. Chilton meine Frage gehört, antwortete er: "Dein Bruder besucht dich erneut. Diesmal allerdings mit Begleitung." Erst war ich enttäuscht. Doch als ich das Wort "Begleitung" vernahm, da war die Enttäuschung vergessen. Hatte Jason nicht gesagt, ich würde seiner Familie nie mehr begegnen? Was hatte ihn dazu bewegt, seine Meinung zu ändern? Ich musste ihn fragen!
Dr. Chilton erklärte: "Mr. Kandinsky möchte zu erst mit dir allein reden. Er meinte, er müsse dich noch "einweihen". Ich habe zwar keine Ahnung, was er damit meinte, doch du wirst es wohl wissen. Also? Was meinte er?" Barney hatte mit inzwischen die Jacke und den Beißschutz angelegt. Ich musterte den Anstaltsleiter und mir stieg die Galle hoch. Schon damals, als ich ihn kennenlernt hatte, wusste ich, er war mir unsympathisch. Aber das er dann doch noch so viel Macht über mich haben würde... Schon oft hatte ich mir vorgestellt, meine Zähne in seinen Körper zu rammen, sein Fleisch Fetzenweise zu entfernen, dabei seine Schreie in meinen Ohren zu haben...
Er fragte erneut: "Ich warte, Lena! Was hat Mr. Kandinsky damit gemeint?" "Ich weiß es nicht.", lautete meine Antwort. Ich sah, dass er ungeduldig wurde: "Nun gut, dann wirst du deine Zelle nachher etwas umgestaltet vorfinden. Barney, du weißt Bescheid." Barney nickte in meinem Augenwinkel. Doch auch ich wusste Bescheid. Das war Dr. Chiltons Art, mich zu bestrafen. Er nahm mir Dinge weg, die mir wichtig waren. Er glaubte, mir damit eine Lektion erteilen zu können. Doch das würde ihm nie gelingen! Nicht mehr, seitdem mir das genommen wurde, was ich am meisten brauchte!
Dr. Chilton grinste schmierig. Fast schon so schmierig wie seine Haare es waren: "Na dann - Genieß die Aufmerksamkeit deiner Familie. Wer weiß, wann sie dich jemals wiedersehen wollen..." Barney fixierte mich auf dem Handkarren und schob mich langsam in Richtung Bewegungskäfig. So hatte ich den riesigen Raum insgeheim getauft, zu dem ich nun gebracht wurde. Wenn der gute Dr. Chilton doch nur wüsste! Ich traf nun einen kleinen Jungen! Natürlich würde ich meine besten Manieren an den Tag legen! Schließlich war ich ja gut erzogen worden!

Barney schloss die riesige Tür und ich rüttelte an den Fesseln. Meine Hände waren hinter meinem Rücken an einem Seil gefesselt, das von der Decke hing und mir nur eingeschränkt Bewegungsfreiheit bot. Ich stellte mir vor, wieder in Florenz zu sein und drehte mich mit dem Rücken zur Tür. Ich ging ein kleines Stück, da hörte ich, das noch jemand den Raum betrat: "Hallo, Lena. Hast du mich vermisst?" ...

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