Gespräch (II)

115 4 0
                                    

Lena sah nicht von der Zeitung auf, nein, sie begrüßte mich hinter der Zeitung, als würde das Papier mit mir sprechen: "Vor sechs Jahren war die Tonlage deiner Stimme höher. Wir alt bist du jetzt, Philip? Siebzehn?" "Ja." Sie seufzte: "Siebzehn Jahre... Wo ist die Zeit geblieben?" Nun endlich legte sie die Zeitung ordentlich gefaltet beiseite und winkelte das linke Knie an. Ihre linke Hand platzierte sie lässig darüber und ihre rechte ruhte auf ihrem Schoß: "Nun denn, was treibt dich hierher? Ich denke nicht, dass es das Ambiente ist, denn ästhetisch betrachtet hält es nur ein Philister hier aus." "Ich möchte Antworten haben.", entgegnete ich. Lena grinste: "Ich bin durchaus bereit, dir Antworten zu geben. Allerdings müsstest du mir hierzu erst einmal Fragen stellen." Sie wies mit einer lockeren Handbewegung auf den Stuhl neben dem kleinen Schrank hinter mir: "Setz' dich, bitte." Ich nickte, klappte den Stuhl auf und nahm Platz. Lena lächelte: "Nun denn, du bist doch bestimmt Dr. Chilton begegnet. Was hältst du von ihm?" Die Antwort fiel mir nicht schwer: "Naja, er ist ein ziemlich schmieriger Kerl. Und das nicht nur äußerlich. Allein sein Grinsen lässt mich übel aufstoßen." Sie nickte: "Genau das meinte ich vorhin. Nur ein Philister wie Dr. Chilton hält es hier aus." "Du bist doch auch noch hier, Lena." Sie schloss kurz die Augen: "Wenn ich könnte, wäre auch ich schon lange weg." "Wenn du könntest? Du kannst also nicht?" Sie seufzte: "Nein. Sie werden mich nie mehr hier herauslassen, solange ich am Leben bin." Ich neigte den Kopf: "Warum? Was hast du getan, dass du hier gelandet bist?" Lena starrte an die Decke: "Es begann alles damit, dass ich ein ziemliches Problem mit der Gesellschaft hatte. Ich verabscheute diese ewige Rangordnung untereinander und wollte dringend etwas daran ändern. Dafür habe ich alles getan! Und dann habe ich jemanden kennengelernt. Er hat sich zu meinem Mentor ernannt und mir gewisse Tricks beigebracht. Ich habe sie natürlich sofort angewendet. Allerdings... besaßen diese Tricks nicht immer... moralisch vertretbaren Wert. Verstehst du, was ich dir sagen möchte?" "In meiner Schule wird gesagt, du wärst verrückt..." Lena lachte kurz auf: "Natürlich. Ich hätte es mir denken können! Hör mir gut zu, Philip: Ich bin nicht verrückt! Ich kann klar denken und meine Handlungen nachvollziehen." "Was hast du denn genau getan?" Nun war sie irritiert: "Hat dir das etwa nie jemand gesagt?" Ich schüttelte den Kopf. Unverblümt sprach sie es aus: "Ich habe Menschen umgebracht. Nicht nur einen, nein, mehrere. Auf unterschiedlichste Art und Weise. Ich sah es als Dienstleistung an. Du musst wissen, ich habe nicht willkürlich gemordet, so wie es gewisse Psychopathen manchmal machen. Nein, ich habe mir die unhöflichen herausgesucht..." "Dr. Chilton hat dich als Soziopath eingestuft..." "So, hat er das, ja? Hat der gute tatsächlich mal etwas richtig gemacht? Hast du jemals seine Papiere gesehen? Die akademischen geben keinen umfassenden Lesestoff ab, das kann ich dir sagen. Bist du eigentlich Alan begegnet? Mit wem von beiden würdest du lieber sprechen?" "Alan hat heute nichts gesagt. Aber dennoch würde ich lieber mit ihm sprechen, glaube ich." Sie nickte lächelnd: "So, mit dieser Basis können wir arbeiten. Sag mir als nächstes, was hältst du von Unhöflichkeit, Philip?" Ich runzelte die Stirn: "Ich kann Unhöflichkeit überhaupt nicht leiden! Diese Leute haben keine Ahnung von gar nichts! Und heute hat mich wieder einer aus meiner Klasse angepöbelt..." "Was hat er gesagt oder getan?" "Er hat behauptet, meine Familie wäre abgefuckt, allen voran du." Lena nickte: "Ich verstehe. Und wie hast du darauf reagiert?" "Ich... bin wütend geworden und habe ihn geschubst." "Sehr gut.", lobte Lena. Ich legte den Kopf schief: "Wie bitte?" "Du hast ihm gleich deutlich gemacht, dass er so etwas nicht sagen darf, ohne bestraft zu werden. Ich hätte ihn zwar noch etwas härter bestraft, aber für den Anfang war das schon gut." Ich verstand nicht, worauf sie anspielte: "Lena, was willst du mir damit sagen?" Sie stand gemächlich auf und kam näher auf die Glaswand zu, lehnte sich teilweise dagegen: "Philip, einen solchen Sinn für Unhöflichkeit haben die wenigsten. Du musst dir diesen Sinn zunutze machen! Damit kannst du viel erreichen, ein stressfreieres Leben führen. Gut, es steckt etwas Arbeit darin, aber wenn du mich es dir erklären lässt, dann kann ich dich weit bringen." "Möchtest du, dass ich so werde wie du? Denn das habe ich gewiss nicht vor!" Sie lachte: "Nein, ich möchte, dass du die Unhöflichkeit bändigst. Du sollst nicht exakt so werden wie ich, du sollst dich nur für den Anfang etwas von mir leiten lassen. Dann würden dich solche Leute wie dein Klassenkamerad nicht mehr länger belästigen. Du verschaffst dir damit sozusagen Respekt. Was hältst du davon?" "Solange ich niemanden umbringen muss... Kann ich mir das nochmal in Ruhe überlegen?" "Selbstverständlich. Du weißt ja, wo du mich findest." Ich nickte und stand auf. Ich klappte den Stuhl wieder zusammen und stellte ihn weg. Lena sagte: "Philip, ich denke, es wäre besser, wenn du keinem etwas von unserem Gespräch erzählst. Das würde nur unnötige Komplikationen und Ärger für uns beide bedeuten. In Ordnung?" Ich nickte: "Ich werde dir in den nächsten Tagen mitteilen, wie ich mich entschieden habe. Aber nun muss ich los, meine Eltern wissen nicht, wo ich bin." "Deine Eltern, ja...". murmelte Lena nachdenklich. "Dann geh nur. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder." "Bestimmt. Bis bald, Lena." "Bis bald, Philip." Lena drehte sich um, setzte sich wieder an die Wand auf den Boden und widmete sich wieder der Zeitung. Erst jetzt wurde mir klar, warum diese keine Klammern enthielt. Mit gesenktem Kopf und einem knappen "Bis zum nächsten mal, Barney." machte ich mich auf den Heimweg. Was hatte Lena bloß mit mir vor? Und wie würde ich mich am Ende entscheiden? ...

You are mine!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt