Gespräch (I)

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Mit mulmigem Gefühl stand ich vor dem unheimlichen Gebäude. Ich hatte mich nach der Schule gleich auf den Weg gemacht. Hier lebte Lena. Obwohl... konnte ich das als "Leben" bezeichnen? Es musste die Hölle sein! Warum war sie hier? Das würde sie mir gleich unbedingt sagen müssen...
Drinnen roch es muffig und die Luft lag schwer wie Blei auf meinen Schultern. Man konnte die Einsamkeit schon fast greifen. Vereinzelte Schreie verdeutlichten mir dies noch mehr und ich begann, leicht zu frösteln. Doch ich riss mich zusammen. Ich war siebzehn Jahre alt und keine elf mehr! Ich würde mich davon jetzt bestimmt nicht aus der Ruhe bringen lassen!
Ich begegnete einem Mann, der mit einem Zipfel seines Hemdes Aschenbecher auswischte. Ich hatte ihn doch schon einmal gesehen, wie hieß er noch gleich? Ach ja, Alan. Der Mann mit dem "Exkremente-Thema". Zu jener Zeit damals war das sehr witzig gewesen. Nun konnte er einem nur noch Leid tun! Seine Augen blickten leer auf den Tisch vor sich und er bewegte sich, als wäre nichts menschliches mehr an ihm und er nur noch eine reine Maschine. Er bemerkte es nicht einmal, als ich fragte: "Wo ist Dr. Chilton?" Diesen Mann würde ich auch nie vergessen! Dr. Chilton, der wahrscheinlich unhöflichste Mensch in ganz Baltimore, noch unhöflicher als Dennis es vorhin war.
Meine Überlegungen wurden unterbrochen: "Nanu, wen haben wir denn da?" Ich drehte mich um und sah Dr. Chilton an. Er hatte nichts an sich verändert, nur zählte ich mehr Falten in seinem Gesicht. Er grinste schmierig: "Guten Tag, Dr. Chilton. Mein Name ist Philip. Philip Kandinsky. Ich war vor sechs Jahren schon einmal hier, erinnern Sie sich?" Er antwortete mit ironischem Unterton: "Natürlich erinnere ich mich. Es kommt nicht häufig vor, dass in diesem Trakt die Insassen Besuch bekommen. Ich nehme an, die Familien denken, es gäbe keinen Grund dazu. So prägt es sich leichter ein, wer hier ein und aus geht. Du... bist der Neffe von Dr. Brautigan, habe ich recht? Ich darf dich doch duzen, oder?" Ich nickte: "Ich wollte zu meiner Tante Lena, ja." Er winkte mich in sein Büro. Dieses staubte in jeder Ecke. Und ich hatte das Gefühl, dass es hier noch mehr nach Einsamkeit roch als im eigentlichen Trakt. Dazu nahm ich das Haargel von Dr. Chilton wahr. Es roch alt und eigentlich nicht mehr brauchbar. Aber er schien damit ja gut auszukommen.
Dr. Chilton sah mich an: "Du willst also zu deiner Tante, ja? Darf ich erfahren, warum?" "Ich möchte Antworten. Zuhause hat mir niemand die Sache erklären können und ich brenne nur so darauf, endlich die Wahrheit zu kennen. In meiner Klasse in der Schule wurde ich auch schon darauf angesprochen." Dr. Chiltons Augen formten sich kurz zu Schlitzen, dann verkündete er: "Oh, deine Tante ist ein Monster! Ein Soziopath schlimmster Sorte! Man erwischt eigentlich nie einen lebend..." "Danke, Dr. Chilton. Aber davon möchte ich mich selbst überzeugen." Er fuhr sich erneut durch die Haare: "Nun gut, ich bringe dich hin. Wenn du mir bitte folgen würdest..." Er stand auf und ging aus dem Büro die Treppe hinab. Ich folgte ihm. Nebenbei erklärte er: "Berühre nicht die Glasscheibe. Nähere dich ihr nicht einmal. Keine spitzen oder scharfen Gegenstände, wenn sie dir etwas reichen will, darfst du es nicht annehmen. Hast du verstanden?" Ich nickte. Dr. Chilton redete weiter: "Wir wollten schon so einige Tests mit ihr durchführen. Rorschach und so, davon verstehst du wahrscheinlich noch nicht so viel. Auf jeden Fall hasst sie uns und hält mich für ihren Nemesis." Kann ich überhaupt nicht verstehen, dachte ich ironisch.
Schließlich kamen wir in einem weiteren Raum an. Eine Gittertür versperrte den Weg zu einem weiteren Flur, in dem sich wahrscheinlich die Zellen befanden. Hier lebte Lena? Ich musste sie unbedingt fragen, wie es ihr hier erging! Dr. Chilton ging auf einen großen Mann mit dunkler Hautfarbe zu: "Barney, ich muss mit Lena sprechen.", befahl er. Ich ging dazwischen: "Moment, Dr. Chilton - Es wäre schön, wenn ich mich selbst vorstellen könnte. Wenn Sie das jetzt tun, verdirbt das die Überraschung..." "Hättest du das eher gesagt, dann würde ich jetzt viel Zeit gespart haben. Wenn er fertig ist, bringen Sie ihn raus, Barney." Barney nickte nur und Dr. Chilton ging wieder nach oben. Ich sah mich kurz um. An der Wand hingen Betäubungsgewehre, Zwangsjacken und eine Hockeymaske. Eine Hockeymaske? Wofür brauchte man die denn hier? Barney musste meinen Blick gesehen haben, denn er erklärte: "Das ist der Beißschutz für Dr. Brautigan. Du darfst dich ihr nicht nähern." Ich lächelte den Pfleger ruhig an: "Dr. Chilton hat mich bereits darauf aufmerksam gemacht, vielen Dank, Barney. Übrigens, meine Name ist Philip." "Nett, dich kennenzulernen, Philip. Häng' deinen Rucksack an den Haken da. Oder brauchst du den?" "Nein." Ich tat, wie mir geheißen und Barney öffnete die Gittertür: "Geh den Flur hinunter. Bis zur letzten Zelle. Neben dem kleinen Schrank steht ein Stuhl, falls du den benötigst. Ich werde aufpassen, dass dir nichts passiert." Langsam ging ich durch die Tür den dunklen Gang entlang. Eine Glühbirne hing von der Decke und spendete wenig Licht, das meiste drang aus der letzten Zelle. Lenas Zelle. Wie es darin wohl aussah?
Die anderen Insassen sah ich nicht an. Ich wollte mir ihr Leid nicht antun! Endlich erreichte ich besagte Zelle. Eine Neonröhre tränkte die circa zwölf Quadratmeter in kaltes Licht. Ich entdeckte eine Pritsche, eine Toilette mit kleinem Waschbecken und einem Stück poliertem Metall, das wahrscheinlich als Spiegel diente und einen kleinen Tisch aus Holz in der Ecke. Lena saß mir gegenüber auf dem Boden. Vor sich hielt sie aufgeschlagen eine riesige Zeitung, beziehungsweise die einzelnen losen Seiten. Doch ihre Beine lugten darunter hervor. Die Titelseite trug die Schlagzeile: "IST DER CHESAPEAKE RIPPER WIEDER DA?" Chesapeake Ripper? Davon hatte ich gehört! Ich neigte leicht den Kopf. Ich hörte, dass Lena tief einatmete: "Habe ich Besuch? Wie ungewöhnlich! Ich kenne von jedem den Geruch, der mich besucht. Doch dieser ist mir neu." Ich holte tief Luft. Dann murmelte ich: "Hallo, Lena." ...

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