Prometheus

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Gelangweilt saß ich auf meinem Platz. Mathematik war einfach nicht von meinem Interesse. Viel mehr dagegen Biologie. Warum könnten wir nicht jeden Tag Biologie haben? Das wäre viel cooler, vor allem, weil ich doch Psychiater werden wollte.
Ich hatte nach dem Besuch bei Lena viel darüber nachgedacht und mich dazu entschlossen, das Angebot ihrerseits anzunehmen. Was hatte ich denn zu verlieren? Meinen Verstand hatte ich bereits in dieser Klasse verloren, was blieb da noch?
Erneut kam Dennis: "Schlappschwanz, du warst gestern in der Klapse! Ich hab's genau gesehen!" Ich drehte mich seufzend zu ihm um: "Ja, Dennis. Du bist auch der geborene Stalker." Plötzlich packte er mich am Kragen und zog mich zu sich hoch: "Pass auf, was du sagst, Kleiner..." Ich war vielleicht nicht ganz der größte, sondern eher der Durchschnitt. Was Dennis aber nicht wusste - Mein Besuch gestern hatte mir gewisse Kraft gegeben. Lenas Worte hatten ihre Wirkung scheinbar nicht verfehlt, ich fühlte die Stärke in meine Glieder kriechen. Ich neigte leicht den Kopf zur Seite und flüsterte drohend: "Lass mich sofort runter..." Dennis lachte grölend: "Soll ich jetzt Angst vor dir haben, Kleiner?" Nun hielt er mich nur noch mit einer Hand fest, mit der anderen holte er aus, zielte auf meine Wange. Ich fing diese ab - und knickte dabei einen seiner Wurstfinger nach hinten, so dass er kurz und schrill aufschrie. Er ließ mich los und meine Faust landete in seinem Magen. Er krümmte sich, plumpste wie ein Sack Mehl auf den Boden. Fast hätte ich ihm noch einen Tritt versetzt, doch er schien erst einmal genug bestraft: "So, Dennis. Ich denke, du hast heute zum letzten Mal schlecht über meine Familie und mich geredet. Meine Tante ist nicht verrückt, genauso wenig wie ich. Ich bin aber jederzeit wieder dazu bereit, dir wehzutun, wenn du dich wiederholen solltest. Und jetzt fände ich eine Entschuldigung sehr angemessen..." Ich wurde von einer metallisch klingenden Stimme unterbrochen: "Ich fände jetzt eher eine Erklärung angemessen, wenn ich ehrlich bin. Was geht hier vor?" Ich drehte mich um. Hinter dem Pult stand ein Mann, den ich bis jetzt nur als den Mann aus dem Gebüsch kannte. Seine Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt und seine Augen funkelten blau wie zwei Eiskristalle. Er hatte einen gut gebauten Körper und unter dem Sakko und dem Hemd konnte ich drahtige Kraft ausmachen. Er riss mich aus den Gedanken: "Nun? Was war hier los?" Dennis richtete sich langsam hinter mir auf und deutete auf mich: "Dieser Psycho hat mich geschlagen!" Der Mann vorne schaute Dennis unverwandt an: "Ich denke nicht, dass Sie ihn als "Psycho" bezeichnen sollten, Dennis." Dennis schluckte nur: "Ich habe gesehen, dass er Sie gebeten hat, ihn herunterzulassen. Sie haben sich geweigert, demnach musste er sich wehren. Ist es nicht so, Philip Kandinsky?" Ich zog eine Augenbraue hoch. Woher kannte er denn jetzt meinem Namen? Woher kannte er Dennis' Namen? Wer war dieser Mann? Er sagte: "Nun denn, ich denke, wir wollen keine Zeit durch derartige Belanglosigkeiten verschwenden. Setzen Sie beide sich, bitte." Wir nickten und nahmen Platz. Nun grinste der Mann leicht: "Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Dr. Hannibal Lecter, für Sie einfach nur Dr. Lecter. Ich bin, eingeplant als Vertretung für Mrs. Schmitt, vorübergehend ihr neuer Deutschlehrer." Ich blinzelte. Endlich konnte ich ihm einen Namen zuordnen. Er schien eine gewisse Strenge zu besitzen. Ihm war es als erstes gelungen, die volle Aufmerksamkeit der Klasse zu erhalten. Das war ein Wunder!
Dr. Lecter sah jeden einzelnen genau an: "Denken Sie erst gar nicht daran, mich auf den Arm nehmen zu wollen..." Dann richtete er seinen Blick auf mich: "... Ich bin Ihnen immer einen Schritt voraus." Ich wusste nicht, wieso, doch der Doktor hatte mich bereits jetzt total in seinen Bann gezogen. Ich konnte gar nicht anders, als ihm zuzuhören. Er fuhr fort: "Wie ich hörte, sollen wir uns jetzt inhaltlich mit der Epoche "Sturm und Drang" beschäftigen. Goethe ist Ihnen allen ein Begriff?" Alle nickten. Dr. Lecter fragte weiter: "Ist Ihnen die Sage von Prometheus bekannt?" Das war sie bei mir leider nicht. Bei den meisten anderen auch nicht. Der Doktor nickte: "Nun, dann wird das Ihre erste Hausaufgabe. Informieren Sie sich über die Sage des Prometheus." Er öffnete seine Tasche, angelte eine Folie daraus und schlenderte zum Projektor: "Hier habe ich Goethes Gedicht "Prometheus". Lesen Sie es sich genau durch und analysieren Sie es dann." Alle nickten stumm und richteten ihre Blicke auf den Text an der Wand. Mein Blick flog mehrere Male über all die Zeilen vor mir. An einer Strophe blieb mein Blick hängen:

"Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen."

Ich musste an meine jetzige Situation denken. Auch ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und auch ich hob den Blick gen Himmel, um nach einer Antwort zu suchen. Ich hoffte, diese Antworten bei Lena zu finden. Und tatsächlich hatte ich einige gefunden.
Ich wusste noch nicht, dass ich mich später noch mehr mit diesem Gedicht vergleichen konnte. Aber das würde sich schon bald zeigen...

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