Konfrontation (II)

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Gähnend drehte ich mich zur Seite - und erschrak. Ich erschrak so heftig, dass ich aus dem Bett fiel. Auf dem Boden angekommen, stotterte ich: "W-Was ma-machen Sie i-in me-meinem B-Bett?!?" Auf der anderen Seite meines Bettes lag Dr. Lecter. Er hatte sich auf die linke Seite gelegt, stützte sich mit dem Arm auf dem Kopfkissen ab und musterte mich grinsend: "Du siehst gut aus. Wenn du schläfst siehst du einfach nur gut aus. So unschuldig und gebrechlich. Ganz anders als im wachen Zustand." Ich neigte verwirrt den Kopf: "Haben... Sie mich etwa beobachtet, Doktor?" "Ich muss gestehen: Ja, das habe ich. Ein wirklich schöner Anblick." Ich runzelte die Stirn: "Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was genau Sie hier in meinem Bett machen." "Wie unhöflich von mir!" Er setzte sich aufrecht und klopfte auf den leeren Platz neben sich: "Ich möchte etwas ausprobieren. Setz dich doch bitte zu mir." Langsam kletterte ich zurück auf das Bett, behielt ihn die ganze Zeit im Auge. Im Schneidersitz, meiner Lieblingsposition, wenn ich auf dem Bett saß, sagte ich: "Ich bin ganz Ohr: Was gibt es so wichtiges, das Sie dazu bringt, sich das Bett mit mir zu teilen, wo Sie doch ein viel gemütlicheres und größeres besitzen?" Er fixierte mich. Ein ernstes Funkeln seiner Augen nahm mir den Mut, ließ mich zusammenzucken: "Lena, ich habe dir doch versprochen, dass wir an deiner Selbstbeherrschung arbeiten." "Ja?" "Ich habe lange überlegt, welche Therapie am besten funktionieren würde. Und zum ersten Mal konnte ich mich nicht festlegen." Ich zog die Augenbrauen hoch: "Tatsächlich nicht?" "Nein. Mir fällt einfach nichts ein." "Und was machen wir jetzt? Ich möchte Sie nicht noch einmal so... "anfallen"! Das ist nicht sittsam! Es ist unmoralisch und taktlos! Vor allem, da ich Sie nicht um Erlaubnis gefragt habe, was ich normalerweise tun würde, weil..." Weiter kam ich nicht, denn plötzlich beugte sich der Doktor zu mir vor, legte seine Lippen auf meine und drückte mich rücklinks auf das Bett. Als die Decke hinunter rutschte, konnte ich einen Blick auf seinen Oberkörper werfen. Zum ersten Mal sah ich seinen Oberkörper ohne beklemmende Kleidung. Er ließ die Muskeln spielen, als er mich mit seinem Gewicht auf das Bett drückte, mich fixierte und somit bewegungsunfähig machte. Er löste sich von mir, blieb allerdings auf mir liegen. Ich schnappte nach Luft: "Was zum..." "Du hast mich nicht gefragt, jetzt habe ich dich auch nicht gefragt. Wir sind quitt." Mir stieg wieder die Hitze in die Wangen. Glühend heiß siedete das Blut in meinen Venen, machte mich unvernünftig.
Der Doktor wollte sich gerade wieder aufrichten, da legte ich die Hände auf seinen Rücken und zog ihn wieder an mich: "Wo wollen Sie jetzt hin?!", fragte ich ganz leise und kaum hörbar. Er antwortete: "Von dir herunter." "Oh nein, ganz bestimmt nicht!" Ich küsste ihn. Meine Hand wanderte über seinen Rücken, erkundete die Haut, fühlte die sehnigen Muskeln und die Wärme seines Körpers. Da kochte es wieder in mir hoch...

Mit einem Lächeln dachte ich an jene Situation. Damals, als ich noch frei war. Ich fragte mich, ob ich jemals wieder diese Freiheit erleben würde. Wenn ja, wäre ich dann an Hannibals Seite? Ich hoffte es inständig. Ebenso hoffte ich, dass ich eines Tages meinen Sohn in meine Arme schließen konnte. Meinen kleinen Philip...
Ich wurde jäh unterbrochen: "Lena! Wie kannst du es wagen, meinen Sohn zu manipulieren?! Du machst ein Monster aus ihm!" Ich öffnete die Augen und stand von meiner Pritsche auf. Jason stand vor meiner Zelle. Sein Gesicht war rot, bekam schon leichte Ansätze von purpur. Seine Stimme triefte nur so vor Zorn. Fragend sah ich meinen Bruder an: "Guten Tag, kleiner Bruder. Was kann ich für dich tun?" Er knurrte: "Ich habe dich gebeten, ihn in Ruhe zu lassen. Aber nein, du formst ihn nach deinem Belieben und machst ein Tier aus ihm..." Ich neigte fragend den Kopf: "Was hat er denn getan?" Jason knirschte mit den Zähnen: "Er hat einen Mitschüler gebissen..." Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen und in mir kochte der Stolz hoch. Mein Sohn! Er setzte sich tatsächlich zur Wehr! Er trat in unsere Fußstapfen! Herrje, wie stolz ich doch auf ihn war!
Jason brüllte: "LENA! ZUM TEUFEL NOCHMAL, LASS IHN ENDLICH IN RUHE! LASS MEINEN SOHN ZUFRIEDEN!" Ich unterbrach ihn scharf, aber ruhig: "Er ist nicht DEIN Sohn! Philip ist mein Sohn! Er gehört mir!" "Du machst ein Monster aus ihm!" "Nein! Hier gibt es nur ein Monster und das bist du, Jason! Du sperrst den Jungen Zuhause ein, lässt ihn nicht in meine Nähe und scheinst ihm auch sonst nicht zu vertrauen. Ich habe genau mitbekommen, wie du ihn angesehen hast. Wann auch immer du ihn siehst, du spürst, dass er nicht dein ist, richtig? Diese Angst plagt dich die ganze Zeit. Und dennoch lügst du ihn immer weiter an. Seit fast achtzehn Jahren ist es immer dieselbe Leier. Und das nur, weil du dir die Wahrheit nicht mehr eingestehen willst..." "Du lügst ihn auch an!", protestierte Jason. Ich blinzelte: "Ich habe keine andere Wahl! Würde ich ihm jetzt die Wahrheit sagen, dann hätte das verheerende Konsequenzen. Verwende doch mal einen Hauch von Empathie und versetze dich nur ein einziges Mal in seine Lage, Jason! Nur ein einziges Mal!" Jason starrte mich feindselig an: "Herrgott nochmal, was ist in deinem Leben nur falsch gelaufen?", fragte er leise. Ich erwiderte seinen Blick kühl, in der Luft war die Spannung zwischen uns deutlich zu spüren. Ich lehnte mich etwas vor: "In meinem Leben ist nichts falsch gelaufen. Ich habe erkannt, was ich gut kann..." "DU HAST MENSCHEN UMGEBRACHT!" Ich schlug kurz mit meiner Faust gegen das Glas. Jason wich automatisch zurück und verstummte. Ich holte tief Luft und redete weiterhin ruhig: "Jason, ich habe nie aus willkür gehandelt und das weißt du auch. Jede meiner Entscheidungen war gut durchdacht gewesen, auch diese." Ich wendete den Blick ab, drehte mich zur Wand. Dabei dachte ich nur noch eines: Hätte ich mich damals dagegen entschieden, hätte ich das, was mir in meinem Leben am wichtigsten ist niemals bekommen...
Jason ergriff wieder das Wort: "Ich bin fertig mit dir! Endgültig! Du wirst Philip nie wieder zu Gesicht bekommen, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen! Du wirst hier in deinem Loch versauern und niemand wird sich je wieder an Dr. Lena Brautigan erinnern! Nur noch an den schrecklichen Teil von dir, den kannibalischen Teufel!" Mit diesen Worten verließ er mich. Als die Gittertür mit einem Klacken zu fiel, schloss ich gequält die Augen. Ich wusste genau, worauf Jason angespielt hatte! Früher war es immer mein Ziel, dass sich nach meinem Tod jeder noch lange an mich erinnert. Das hatte ich erreicht, wenn auch anders als geplant.
Meine Beine gaben nach und ich sackte auf die Knie. Meine Augen füllten sich heiß mit Tränen und in mir stieg die blanke Wut hoch. Ich würde es nicht zulassen, dass mein Bruder mir meinen Sohn weg nahm! Er war mein! Und das würde ich ihm auch schon bald sagen! ...

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