Blutige Wahrheit

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Ich holte tief Luft und schaltete meinen Laptop an. Mein Blick fiel immer wieder auf den USB-Stick in meiner Hand. Gleich würde ich es erfahren. Ich würde endlich erfahren, was Lena gemeint hatte.
Zu meinem Glück funktionierte alles, wenn auch etwas mühsam. Immerhin lag das gute Stück schon mindestens achtzehn Jahre da unten im Schuppen... Ich öffnete den Stick und sah sofort einen Ordner mit dem Namen "Für Philip - Die Erklärung" auf dem Bildschirm. Mit gerunzelter Stirn und hochgezogener Augenbraue klickte ich ihn an. Es erschienen lauter kleiner Bilddateien. Ich sah sie mir nacheinander genau an. Ich erkannte abwechselnd Lena und Dr. Lecter. Manchmal auch beide zusammen. Sie wirkten beide ziemlich vertraut. Ich schätzte, dass die Fotos irgendwo in Italien aufgenommen wurden. Dies verrieten mir die prächtigen Bauten im Hintergrund. Doch das darauf folgende Bild starrte ich länger an. Dieses war in einem Krankenhaus aufgenommen. Auf dem Krankenbett in der Mitte des Bildes thronte eine sehr erschöpft aussehende Lena. In ihren Armen hielt sie ein kleines Bündel - Ein Kind. Moment, ein Kind?! Lena hatte ein Kind? Ich griff mir nochmal den Brief und ging ihn Zeile für Zeile durch. Dann ging ich im Kopf noch einmal alle unsere Gespräche durch: "... Nein, nein, nein... das kann nicht sein! Das ist unmöglich!", murmelte ich geschockt. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich presste die Hände vor das Gesicht und flüsterte tonlos: "Oh mein Gott... Ist es wahr? Ist in Wirklichkeit Lena meine Mutter?"
Meine Kiefer mahlten und als ich die Hände zu Fäusten ballte, stachen meine Knöchel weiß hervor. Ich schnaubte vor Wut. Ich wurde belogen! Die ganze Zeit! Langsam richtete ich mich auf und knurrte leise. Ich würde jetzt zwei gewisse Leute zur Rede stellen. Sofort!
Wutentbrannt schritt ich nach unten in das Schlafzimmer meiner "Eltern", riss die Tür auf und donnerte in die Dunkelheit: "WAS FÄLLT EUCH EIGENTLICH EIN, MICH MEIN GANZES LEBEN LANG ZU BELÜGEN?!?" Ich schlug auf den Lichtschalter an der Wand und blickte im nächsten Moment in zwei verwunderte Augenpaare: "Philip, was...?", begann meine vermeintliche Mutter, doch ich hob nur die Hand: "Sei still! Ich will wissen, wie ihr dazu kommt, mich die ganze Zeit anzulügen! Auf der Stelle!" Mein "Vater" setzte sich auf: "Seit wann weißt du das? Und von wem weißt du das?" "Ich weiß es von Lena. Ich habe es gerade eben herausgefunden. Warum tut ihr mir das an?" "Mein Sohn, hör' mal..." Ich knurrte: "Nein, Jason, jetzt hörst du erst einmal mir zu! Ich bin nicht dein Sohn! Und deine dämlichen Ausreden kannst du dir sparen! Ich will die Wahrheit hören!" Er seufzte: "Lena ist ein Monster. Doch wir wussten davon nichts. Wir wussten von dir, ja. Aber wir wussten nichts über deinen Vater oder sonst irgendetwas über ihre Taten. Lena übergab uns eines Tages dich, als sie gefasst wurde. Wir versprachen, dich wie unser eigenes Kind zu behandeln." "... Und weiter?" Er zuckte mit den Schultern: "Nichts weiter." "Ihr scheint euch die Sache ja richtig zu Herzen genommen zu haben. An mich hat dabei wohl keiner gedacht, was?", murmelte ich. Meine Hand wanderte in diesem Moment zu meiner Hosentasche. Darin befand sich das Messer von Dr. Lecter. Jason sah mich hilflos an: "Was hätten wir deiner Meinung nach den tun sollen? Du warst gerade erst geboren, als wir dich bekamen." "Ihr hättet es mir eher sagen können!" "Wann denn?" "Keine Ahnung, vielleicht nicht unbedingt nach achtzehn Jahren! Nun habe ich es selbst herausgefunden..." Ich zuckte mit den Schultern: "Jetzt ist es auch egal..." Loreen stand auf und kam auf mich zu. Sie nahm mich in die Arme: "Es tut mir Leid, Philip.", flüsterte sie. Ich musterte Jason, während ich leise und kaum merklich das Messer aus der Hose zog und es aufklappte. Unhöflichkeit musste bestraft werden und Lügen war eine Unhöflichkeit! Ich murmelte: "Mir tut es Leid... Du warst immer gut zu mir. Aber das war sehr unhöflich..." Dann stach ich zu. Loreen schrie auf, Jason sprang hoch: "UM GOTTES WILLEN, WAS TUST DU, PHILIP?!" Ich grinste ihn zynisch an: "Nun ja, wenn wir schon beim Thema Wahrheit sind - Ich habe Lena mehr als nur einmal aufgesucht. Von ihr habe ich ein paar exzellente Tricks zur Bestrafung unhöflicher..." Dr. Lecter erwähnte ich besser nicht.
Jason zog Loreen von mir weg und beide fielen auf das Bett. Ihr Atem ging immer flacher, ihre Augen wurden glasig. Ich grinste nur. Jason schrie mich an: "WAS FÄLLT DIR EIGENTLICH EIN?! DU HAST DEINE MUTTER UMGEBRACHT!!" "SIE IST NICHT MEINE MUTTER! UND DU BIST NICHT MEIN VATER!" Er sah traurig zu Loreen, dann murmelte er: "Du hast recht. Wäre ich dein Vater, dann wärst du nicht so ein brutales Monster. Aber Lena ist deine Mutter - Die Gene haben wohl gesiegt..." Das reichte mir! Nun war endgültig Schluss! Ich stürzte vor und rammte Jason mein Messer in die Brust, drückte ihn auf das Bett und knurrte: "Rede nie wieder schlecht über meine Mutter! Hast du mich verstanden?!" Er röchelte, dann verdrehte er die Augen und sank zurück. Ich zog mein Messer aus seiner Brust und trat zurück. Ich betrachtete mein Werk akribisch und realisierte erst gar nicht, was ich getan hatte. Doch plötzlich sah ich meine Umgebung wieder mit normalen Augen, steckte das Messer weg und keuchte auf: "Herrje, was habe ich getan?", flüsterte ich tonlos. Vorsichtig kam ich wieder näher und berührte die zarte Wange der Frau, die ich mein ganzes Leben lang als meine Mutter gekannt hatte. Nun war sie tot. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wollte doch keinen töten! Aber nun hatte ich es getan...
Ich hockte mich neben dem Bett auf den Boden, nahm ihre Hand und weinte. Nebenbei flüsterte ich immer wieder: "Es tut mir so leid... Ich wollte das nicht! Verzeiht mir bitte..." Was war nur aus mir geworden? Hatte Dennis doch recht gehabt? War ich letztendlich doch ein kleiner abgefuckter Psycho?
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter: "Was ist denn hier los? Was für ein Chaos..." Mit tränenüberströmten Gesicht sah ich auf. Dr. Lecter stand hinter mir und musterte mit gerunzelter Stirn zuerst die Leichen auf dem Bett, dann mich: "Philip, hast du etwa...?" Ich schluchzte: "Ja, Dr. Lecter. Ich habe sie umgebracht. Ich habe meine Eltern umgebracht..." Er zog mich zu sich hoch, dann in seine Arme. Seine Hand glitt mehrere Male langsam über meinen Rücken: "Shhh... Philip, beruhige dich. Es wird alles gut, mein Sohn..." Ich ließ meinen Emotionen freien Lauf und weinte einfach in seinen Mantel. Er flüsterte weiter: "Ich bin hier, mein Sohn. Dein Vater ist für dich da. Es wird alles gut, mein Junge." Diese Worte wiederholte er immer und immer wieder. Endlich konnte ich das Rätsel komplett lösen. Lena war meine Mutter und Dr. Hannibal Lecter mein Vater. Das waren meine wirklichen Eltern! Endlich konnte ich meine Zuneigung für sie komplett verstehen. Und auch ihr Interesse für mich nachvollziehen. Ich war ihnen wohl doch nicht egal.
Als ich mich langsam beruhigte, murmelte der Doktor: "Sammel' Ein paar Sachen von dir zusammen. Ich nehme dich mit zu mir. Geh nach oben, pack alles ein, was du brauchst. Ich werde in der Zeit hier unten etwas aufräumen und auf sich warten." Eher passiv wendete ich mich von meinem Vater ab und wollte bereits mit gesenktem Kopf nach oben trotten, da rief er mir noch zu: "Philip, egal, was noch passiert - Du wirst niemals allein sein! Das verspreche ich dir!" ...

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