Offenbarung (II)

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Fassungslos starrte ich Lena an. War das ihr Ernst? Bestimmt, denn sie log mich nie an. Das würde sie sich nie trauen, das wusste ich.
Ich war damals also geflohen, hatte Lena sich für mich opfern lassen, ohne zu wissen, dass jenes Kind, welches sie damals in sich trug, meines war? Ich sagte: "Ich dachte, es wäre von jemand anderem." Sie legte den Kopf schief und ich erläuterte: "Das Kind. Ich ahnte zwar, dass du schwanger warst. Aber, dass es von mir ist... Das hättest du mir sagen müssen!" Mein Ton wurde zum Ende hin immer strenger. Doch ich fing mich wieder und fragte ruhig: "Wann möchtest du es Philip sagen?" Sie wand sich: "Ich... ich weiß es nicht. Bis zu seinem elften Lebensjahr wusste er nicht einmal, dass ich existiere." Ich sah sie fragend an, sie seufzte und murmelte: "Setz' dich, bitte." Endlich ließ ich von der Scheibe ab, trat zurück und nahm auf dem kleinen Stuhl Platz. Er war wirklich sehr ungemütlich, aber darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern! Lena seufzte erneut und begann, zu erzählen: "Kurz bevor du damals fliehen musstest, habe ich entbunden. Das wusstest du ja. Ich wollte es dir erst sagen, doch ich war mir zum einen nicht sicher, ob es dich überhaupt interessiert und zum anderen ahnten wir ja schon, dass Will Graham bald bei dir aufschlagen musste. Als dann der besagte Abend kam und ich daraufhin für dich hierher ging, da bat ich meinen Bruder Jason und dessen Frau Loreen, sich dem Kleinen anzunehmen. Loreen gefiel der Gedanke sofort, da sie selbst ja keine eigenen Kinder bekommen kann und auch Jason war sofort hin und weg. Er war total in der Vaterrolle drin. Er kam mich jedes Jahr einmal besuchen. Doch er steigerte sich mehr und mehr hinein, behauptete schließlich, dass Philip sein eigener Sohn wäre... Du ahnst nicht, wie glücklich ich war, als Philip mich vorhin besucht hat." "Ich habe gesehen, dass er gegangen ist.", murmelte ich. "Er wirkte leicht verloren." "Ich hatte ihm ja auch ein Angebot gemacht. Das, welches du mir damals gemacht hattest..." Ich runzelte die Stirn: "Du denkst also, du kannst ihm von hier aus die Werte vermitteln, die ich dir vermittelt habe?" Sie senkte leicht den Kopf: "Nicht die praktischen. Aber die Theorie..." Ich musste schmunzeln: "Überlass das ruhig mir. Schließlich bin ich ihm näher als du." Ich erhob mich langsam und stellte den Stuhl zurück: "Willst du schon wieder gehen?", fragte Lena mit vor Tränen glitzernden Augen. Ich nickte: "Ich muss mich für den Unterricht morgen vorbereiten. Aber ich werde wiederkommen." Ich wandte mich bereits zum gehen, da senkte sie die Stimme: "Hannibal? Bist du sauer, dass ich es dir nicht erzählt habe?" Ich kam noch einmal so dicht wie ich konnte zur Glasscheibe: "Ein wenig, ja. Aber nun bin ich wieder Zuhause und es wird sich so einiges ändern, das versichere ich dir." "Ich liebe dich, Hannibal. Pass gut auf unseren Jungen auf." Ich lächelte: "Keine Sorge. Es wird ihm nichts passieren." Mit diesen Worten ließ ich sie alleine. Ich konnte es irgendwie immer noch nicht so richtig glauben, was Lena mir da gerade offenbart hatte. Ich hatte einen Sohn! Er, dieser Junge, war tatsächlich mein Sohn! Auf dem Weg nach Hause lief ich durch meinen Gedankenpalast und blieb vor einem Bild stehen...

Fröhlich quietschte sie, als ich sie im Kreis herumwirbelte: "Mischa, wie heiße ich?", fragte ich dabei. Sie konnte es immer noch nicht komplett aussprechen: "Anniba!", rief sie. Wir plumpsten ins weiche Gras und lachten. Über uns zogen einige weiße Wolken über den helioblauen Himmel. Eine sah aus wie ein Schmetterling. Mischa reckte die Arme: "Anniba, da...", murmelte sie. Ich musste grinsen. Natürlich konnte man sich recken und strecken, wie man wollte - Der Himmel würde aber immer unerreichbar bleiben...

Wenn ich nun so darüber nachdachte, dann war der Himmel doch erreichbar. Denn durch diese Offenbarung von Lena hatte ich mich ihm ein Stück genähert. Zumindest fühlte ich mich so.
Philip wurde also von seinem "Vater" gezügelt? Das musste ich ändern! Ganz dringend!
In meiner Wohnung blätterte ich gerade durch die Gedichte, die ich im Unterricht behandeln musste. Prometheus von Goethe würde sich bestimmt gut für mein Vorhaben eignen. Philip würde sich noch wundern, das stand fest. Ebenso stand es fest, dass wir viel Zeit brauchen würden. Aber war er auch dazu fähig, sich darauf einzulassen und es gleichzeitig zu akzeptieren? ...

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