Kapitel 10

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Erst, als Leslies leise Schritte wieder erklangen, hob ich den Kopf und blickte direkt in den Spiegel, der gegenüber an der Wand hing. Das, was ich dort sah, brachte mich fast dazu, mich wieder über das Klo zu beugen. Ich sah schrecklich aus! Leichenblass mit tiefen Schatten unter den Augen und Schweißtröpfchen auf der Stirn. Stöhnend stand ich noch mal auf, um mir das Gesicht zu waschen und mir die Haare aus dem Gesicht zu binden.

Dann stand Leslie neben mir und reichte mir mit großen Augen ein Glas Wasser, dass ich gierig hinunterstürzte.

„Wie fühlst du dich?", fragte Leslie und legte mir eine Hand auf die Stirn. „Oh Gwenny, dein Gesicht ist ja total erhitzt! Hast du Fieber? Oder eine Grippe? Was Falsches gegessen?"

Ich schüttelte zu allem den Kopf. Zwar glühte mein Gesicht wirklich wie verrückt, aber ich war mir sicher, dass ich kein Fieber hatte. Und auch keine Grippe. Was ich hatte, war offensichtlich die Reaktion meines Körpers auf die wiedergewonnenen Erinnerungen.

Nachdem ich noch drei Minuten auf dem Klodeckel gesessen hatte, war die Übelkeit verschwunden und auch das Hitzegefühl ließ langsam nach. Nur mein Kopf dröhnte noch immer wie nach einer durchzechten Nacht. Wir gingen zurück in Leslies Zimmer und ich erzählte ihr von dem, was ich gerade „geträumt" hatte. Sie schaute mich die ganze Zeit über mit offenem Mund an und konnte mir jedenfalls bei den Erinnerungen, die sie beinhalteten, sagen, dass sie sich wirklich so ereignet hatten. Was bedeutete, dass Gideon ein komplettes Arschloch und ich ein verschüchtertes Kaninchen gewesen war. Und hatte ich allen Ernstes gedacht, dass Marley mich an mich selbst erinnerte?! Verdammte Scheiße! Auf einmal machten der pinke Baldachin und die hässlichen Klamotten in meinem Schrank einen Sinn.

Nichtsdestotrotz hatte Gideon kein Recht gehabt, mich so zu behandeln. Ich hatte richtig gestottert, als er in den Raum gekommen war. Mit einem Mal war die Mischung aus Angst verletzt zu werden und Freude, die ich gespürt hatte, als ich ihn gesehen hatte, wieder so greifbar, dass meine Übelkeit kurz wieder aufflackerte. Und das Schrecklichste war, dass ich empfand, als wären die Gefühle meine eigenen. Was sie im Prinzip ja auch waren, aber alles in mir sträubte sich dagegen, Gideon mit einer Angst vor Demütigung zu verbinden. Eins stand fest: ich war offensichtlich ziemlich in ihn verschossen gewesen – war es immer noch – und er hatte sich einen Spaß gemacht, auf meinen Gefühlen herumzutrampeln. An das, was Leslie mir in der Kantine erzählt hatte, mochte ich gar nicht denken, denn dann würde ich wirklich alle Nerven verlieren.

Ich blinzelte. Moment mal. Hatte ich nicht irgendwas von dem letzten Sommer und Gideons Lippen auf meinen . . . ein unscharfes Bild tauchte vor meinen Augen auf und ich schnappte nach Luft. Gideon hatte mich geküsst? Obwohl er mich offensichtlich so zu verabscheuen schien? Das ergab doch keinen Sinn. Doch es ließ sich nicht verleugnen. Ich sah Gideon ganz nah vor mir und spürte seine langen Haare unter meinen Fingerspitzen, die sich in seinem Nacken unter meinen Fingern lockten. Und das war keine Erinnerung aus meinem eigenen Leben.

Das war es, ich hatte einen Namen gefunden. Diesen ganzen Mist hier würde ich ab sofort als mein fremdes Leben titulieren. Für einen kurzen Moment sehr zufrieden mit mir über diesen Geistesblitz, konzentrierte ich mich dann wieder darauf, mehr Sinn aus dem Chaos zu machen. Letzten Sommer . . . hatte Paul nicht auch irgendwas in die Richtung gesagt? Oh Gott. Hatte ich etwa meinem Vater erzählt, dass Gideon mich geküsst hatte? Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mein Alter Ego geschlagen.

„Les, was ist letzten Sommer passiert?", platzte es aus mir heraus. „Zwischen Gideon und mir?"

Einen Moment lang starrte sie mich an, als habe sie meine Frage nicht verstanden. Dann legte sich ein mitfühlender Ausdruck auf ihr Gesicht.

„Hast du dich daran auch erinnert?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht direkt daran, aber in einer Erinnerung hab ich daran gedacht. Ich hab nur ein verschwommenes Bild im Kopf."

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