Kapitel 19

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Die nächsten beiden Tage zogen sich wie zähes, altes Kaugummi. Morgens ging ich zur Schule, wurde anschließend von Lucy oder Paul abgeholt und wir elapsierten zusammen. Nachmittags bis abends kämpfte ich dann gegen den Drang zu Gideon zu fahren, um ihn entweder windelweich zu prügeln, oder aber um mich für mein Verhalten zu entschuldigen, was total lächerlich wäre. Ich hatte absolut nichts falschgemacht. Er dagegen schon, und ich hoffte, er merkte es.

Leslie und Charlotte riefen mich ein paar Mal an und erstaunlicherweise freute ich mich selbst ein bisschen, als Charlottes Name auf dem Telefon auftauchte. Auch Gideon hatte noch einmal angerufen am Tag nach unserem Gespräch, doch ich hatte ihn ignoriert. Es würde ihm nicht schaden, ein wenig zu zappeln. Vielleicht überlegte er es sich dann ja zweimal, ob er mich ein weiteres Mal so behandelte.

Was ich allerdings wirklich nicht verstand und worüber ich mir in jeder freien Minute den Kopf zerbrach, war warum es sich bei ihm genau umgekehrt verhielt. Warum konnte er sich an dieses Leben hier erinnern, aber nicht an unser altes? Doch so sehr ich auch darüber nachdachte, mir fiel einfach keine logische Erklärung ein.

Nachts träumte ich Sequenzen aus meinem alten Leben, in denen auch Gideon keinen unwesentlichen Teil ausmachte. Er war wirklich ein widerliches Arschloch gewesen und ich ein naives Mauerblümchen, was er natürlich nach Strich und Faden ausgenutzt hatte. Einmal hatte ich offensichtlich sogar den Chronografen für ihn geklaut und bei ihm zuhause vorbeigebracht, nur weil er es gewollt hatte. Und natürlich hatte ich auch den Ärger dafür gekriegt. Nach solchen Erinnerungen fiel es mir ein wenig leichter, Abstand zu ihm zu halten.

Dann kam der Samstag und ich hatte leider keine Chance mehr, meine Zeit in der Schule totzuschlagen. Stattdessen saß ich zuhause in meinem Zimmer und wurde von Minute von Minute unruhiger, weil mir nichts einfiel, womit ich mich beschäftigen konnte. Leslie war heute Morgen zu ihrer Cousine nach Bath gefahren und Charlotte gegenüber war ich noch nicht genug aufgewärmt als dass ich sie von mir aus angerufen hätte.

Zum gefühlt tausendsten Mal verfluchte ich den ganzen Mist und wünschte mir, alles wäre so wie vorher. Natürlich hatte ich auch früher mal Zeit ohne meine Freunde verbracht, aber dann wäre jedenfalls alles in Ordnung gewesen und Xemerius hätte mir die Zeit vertrieben.

Schlagartig setzte ich mich von meinem Bett auf.

Xemerius! Ich hatte noch nicht einmal nachgeschaut, ob er noch in der alten Kirche herumgeisterte. Ich war echt eine tolle Freundin! Versank hier in Selbstmitleid, während die Chance, dass der kleine Wasserspeierdämon noch immer da war, gar nicht mal so gering war. Mein Herz machte einen erfreuten Hüpfer.

Okay, stopp. Ich durfte mich nicht zu sehr freuen, bevor ich mich nicht vergewissert hatte, dass es Xemerius wirklich noch gab. Der Tag war zwar sowieso schon im Eimer, aber wenn ich mir jetzt falsche Hoffnungen machte, würde der Eimer auch noch umkippen.

Da Lucy und Paul gerade zusammen mit Edwin einen Spaziergang durch den Hyde Park machten, legte ich ihnen einen Zettel auf den Küchentisch und stieg dann in die U-Bahn.

Etwa eine halbe Stunde später stand ich endlich vor den großen Kirchentüren. Erst jetzt merkte ich, wie aufgeregt ich war. Wenn Xemerius nicht dort war, dann . . . ich schluckte. Ich vermisste ihn wirklich und hatte in den letzten Tagen schon zu viele Menschen verloren. Er war zwar kein Mensch, aber er war mir echt ans Herz gewachsen.

Nachdem ich noch einmal tief Luft geholt hatte, stieß ich die Tür auf und trat ein. Die Kirche war leer bis auf ein altes Ehepaar, das vor dem Altar stand und dabei war eine Kerze anzuzünden. Keine optimalen Bedingungen, um nach Xemerius zu rufen, aber es hätte schlimmer kommen können.

Ich sah mich um und lief in die Mitte der Kirche.

„Xemerius?", rief ich leise und ignorierte die Frau, die sich in meine Richtung drehte.

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