"Wozu?" fragte ich genervt.
"Du hättest den Weg alleine nie gefunden." sagte er schmunzelnd.
"Ich hatte nie vor, ihn zu finden. Ich will da nicht hin!" erklärte ich, wobei der erste Satz noch sachlich Klang, der zweite aber jämmerlich. Ich hörte selbst den beinahe kläglichen Unterton in meiner Stimme und hasste mich dafür, konnte aber nichts dagegen tun.
"Hey, so schlimm sind die nicht." antwortete Cem.
"Sie haben mich praktisch als unbrauchbar bezeichnet. Warum sollte ich ihnen freiwillig wieder begegnen wollen?" entgegnete ich."Weil es wichtig ist. Und weil ich dich darum bitte" sagte er grinsend.
Ich blieb stumm.
"Bitte" schob er noch hinterher.
"Nein." beharrte ich auf meine Meinung.
"Bitte" wiederholte ich und sah mir dabei direkt in die Augen.
"Nein"
"Es ist wirklich wichtig." erklärte er.
"Und warum?" fragte ich nach und sah die Chance, eine meiner Frage beantworten zu können.
"Du wirst es erfahren, wenn du mitkommst" sagte er und grinste schon wieder..."Na schön" seufzte ich. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da zog er mich schon in Richtung Fenster.
"Kann ich mir eventuell noch was anderes anziehen?" fragte ich leicht genervt.
"Warum? Ich finds schön" antwortet er ohne mich anzusehen. Trotzdem war ich mir sicher, dass er (mal wieder) grinste.
"Toll." sagte ich nur.
"Nur ein bisschen kalt, aber, wen interessiert's?" murmelte ich zu mir selber, so leise, dass Cem es nicht hören konnte. Er zerrte mich zum Fenster.
"Hey, warum gehen wir nicht durch die Tür?" fragte ich. Ich war nicht wirklich scharf darauf, 23. Stockwerke runter zuspringen und nie wieder hochzukommen.
"Weil wir nachher nicht mehr durch die Tür können und du Übung brauchst. Runter ist immer leichter als hoch" antwortete er und zwinkert mir dabei zu. Aber er hatte recht. 22:00 Uhr schlossen sich automatisch alle Türen. Ausgangssperre. Es gab zwar Sondergenehmigungen, aber so eine hatten wir nicht. Und das es runter leichter war als hoch glaubte ich ihm sofort. Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung wie wir überhaupt durchs Fenster weg wollte, aber um hochzukommen bräuchte man definitiv Muskeln. Und diese besaß ich leider nicht. Im Gegensatz zu Cem.Im Mondlicht konnte ich gerade noch so die Umrisse seiner starken Arme ausmachen. Es wäre bestimmt schön, von Ihnen festgehalten zu werden. Sie sehen so sicher und schützend aus und... was dachte ich denn da?! Woher kam denn dieser dumme Gedanken?! Ich schüttelte nur über mich selber den Kopf.
Leider schaute in dem Moment Cem her und natürlich entging ihm das Schütteln meines Kopfes nicht.
"Was ist? Kommst du jetzt doch nicht mehr mit oder warum schüttelst du so den Kopf?" fragte er.
Darauf wusste ich erstmal keine Antwort. Ich könnte ja schlecht sagen, dass ich über mich selber den Kopf schüttelte weil ich daran dachte in seinen Armen zu liegen oder?
"Nur so." sagte ich.
"Nur so?" kam die Rückfrage.
"Jap. ich komme mit." stellte ich nochmal alles klar.
"Okay".
Dann standen wir leider auch schon vor dem Fenster.Er ließ mir den Vortritt und ich trat an das offenen Fenster. Wenn das Fenster zu war, liebte ich es hinaus zu schauen und die Menschen auf den Straßen zu beobachten. Ihre Individualität zu finden, wo es eigentlich keine geben durfte. Manchmal sah ich Leute, die unter ihrem grauen Mantel ein gelbes T-Shirt versteckt hatten. Oder Leute, die Ohrringe trugen. Mit bunten Edelsteinen, jedoch so klein um von Haare verdeckt, dass man es nicht sah ohne genau hinzuschauen. Das alles liebte ich von meinem Fenster aus zu sehen, solange es zu war. Jetzt jedoch, war es offen.
Ich konnte den Wind in meinem Gesicht spüren, und das dunkle Grau des Gehwegs 23 Stockwerke unter mir schwankte wie auf einem Schiff. Ich blickte auf die spiegelnde Fensterwand des hohen Gebäudes, in dem ich stand. Ich sah das Spiegelbild des Mondes, wie es hell reflektiert wurde.
Erst als Cem mir die Hand auf die Schulter legte, realisierte ich, dass ich vom Fenster zurück getreten war.
"Du hast Höhenangst?" fragte er belustigt.
"Nein!" verteidigte ich mich.
"Und warum gehst du dann nicht runter?"
"Ich... Ähhh..." versuchte ich mich zu erklären.
"Hey, jeder hat sich vor irgendetwas Angst" sagte er und bewegte dabei seine Hand beruhigend auf meiner Schulter hin und her.
"Ja, aber ich hab keine Höhenangst" sagte ich bestimmt. Und ich sagte die Wahrheit.
"Und vor was hast du dann Angst, wenn nicht vor der Höhe?" fragte er leicht belustigt.
"Vor dem Aufprall" flüsterte ich.
Ich hatte nicht Angst vor der Höhe, oder vor dem Fall. Ich hatte Angst vor dem Aufprall. Und vor dem, was danach kam.Jetzt grinste er nicht mehr. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Er starrte mich einfach nur an. Seine Hand, die immer noch auf meiner Schulter lag, glitt herunter, meinen Arm entlang, bis zu meiner Hand. Dort umschloss sie meine Hand und hielt sie fest. Währenddessen blickte er mir die ganze Zeit in die Augen.
Dann trat er wieder an das offene Fenster und zog mich mit sich.
"Sieh nach unten." sagte er.
Ich trat ans Fenster und blickte nach unten.
"Was siehst du?" fragte er.
"Einen... Gehweg...?"
"Und was passiert, wenn du springst und unten aufkommst?"
"Ich... ich werde..." versuchte ich es auszusprechen, aber ich konnte es nicht.
"Sag es. Was passiert?"
"Ich sterbe..." sagte ich so leise, dass ich es selbst kaum verstehen konnte.
"Und genau das wirst du nicht"
"Wie kannst du dir da so sicher sein?" fragte ich ihn, immer noch unsicher.
"Weil ich dich auffangen werden"Ich blickte ihn nur aus großen Augen direkt an.
Hatte er das eben wirklich gesagt?
Auf einmal fühlte ich mich bereit, nach unten zu sehen. Ich nickte nur leicht.
"Ich hab dich vorhin angelogen." sagte er bestimmt.
"Was?" fragte ich. Ich bekam schon Panik, dass er das mit dem Auffangen nicht ernst gemeint hatte.
"Nicht bei dem Auffangen." sagte er beschwichtigend und drückte mein Hand fester.
"Wir müssen erst hoch, und dann runter"
"Was?" fragte ich wieder, diesmal verwirrt. Trotzdem war ich leicht panisch. Hoch? Ich konnte nirgendwo hoch klettern. Ich hatte keine Kraft.
"Hey, alles ist gut. Schon vergessen? Wenn du fallen solltest, fang ich dich auf ok? Vertrau mir." sagte er wieder und nahm jetzt auch meine zweite Hand. Wir standen nun so nahe, dass ich erneut seinen Atem spüren konnte.
"Ok. Ich vertraue dir" erklärte ich. Und das tat ich wirklich.
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Colour of Life
Teen FictionGrau. Farblos. In einer Welt aus Glas und Marmor. Ohne Farbe und Gefühle. Geheiratet wird nicht aus Liebe, sondern aus gesellschaftlichen Gründen. Kinder bekommt man nicht aus Fürsorge oder Zuneigung, sondern zu biologischen Zwecken. Ein Tagesablau...