2. Kapitel: Begegnung

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Ich taumelte von dem starken Zusammenstoß (die Person gegen die ich gelaufen war muss es auch sehr eilig gehabt haben (was selten war, denn, wie gesagt, niemand hatte es hier eilig), denn sie hatte mich nicht kommen sehen und muss auch ziemlich zügig gelaufen sein) und versuchte mein Gleichgewicht wiederzufinden, was mir aber nicht so recht gelang. Gerade als ich merkte, das ich so oder so hinfallen würde (und mir in Gedanken schon zurechtgelegt hatte, wie ich einigermaßen elegant und schmerzfrei auf den harten Weg fallen könnte) packten mich zwei starke Arme. Eine griff nach meinem Arm, der andere umschlang meine Taille. Ich schaute hoch, um zu sehen, in wen ich gelaufen war und wer mich vor meinem Sturz auf den unbequemen Boden gerettet hatte, und schaute in zwei unglaublich blaue Augen. Für einen Moment dachte ich, sie würden belustigt funkeln, aber bevor ich mir richtig sicher war, war dieser Ausdruck verschwunden und dem allgemeinen gleichgültigem und kaltem Ausdruck gewichen.

Er hielt mich länger fest als nötig. Ich hatte mein Gleichgewicht wiedergefunden und stand sicher auf meinen eigenen Füßen, aber er hielt immer noch meinen Arm fest und musterte mich.
"Sie können mich auch wieder loslassen" sagte ich, als es mir langsam ein bisschen zu unangenehm wurde.
Er warf noch einen letzten Blick auf meine halb aufgegessene Schokolade, ließ meinen Arm los, drehte sich um und lief in die selbe Richtung aus der er (meiner Meinung nach) schon gekommen war.

Ich stand einfach da und starrte ihm hinterher. Irgendwas war komisch, anders an ihm. Irgendwann realisierte ich das ich wie versteinert mitten auf dem Weg stand und immer noch mein Arm oben gehalten hatte, genau dort wo er ihn losgelassen hatte. Ich wurde schon von mehreren Menschen blöd angeschaut und da ich eh keine Zeit zu verlieren hatte, ging ich los um noch rechtzeitig zu Hause zu sein.

Da der Fahrstuhl gefühlte Ewigkeiten brauchte um aus dem 17 Stock zu mir ins Erdgeschoss zu fahren, beschloss ich kurzerhand hoch zu laufen. Jeden Falls bis in den 17 Stock. Aber (wie ich mir hätte denken können) war der Fahrstuhl, als ich im 17 Stock ankam schon längst nicht mehr da. Also sprintete ich auch noch die letzten 6 Stockwerke hoch und schloss atemlos die Tür auf.

Ich kam gerade noch rechtzeitig. 3 Minuten und 15 Sekunden nachdem ich mich an meine Hausaufgaben gesetzt hatte, hörte ich, wie die Tür wieder aufgeschlossen
wurde. Mum. Pünktlich wie immer. Ich hörte wie sie in die Küche lief und die Kaffeemaschine anschaltete (wie immer nachdem sie zu Hause angekommen war). Ich beschloss, dass ich heute schon genug meinen routinierten Tagesplan zerstört hatte (durch die Schokolade und die Zeit zum kaufen der Schokolade die ich eigentlich für Hausaufgaben hätte nutzen sollen) und ging, ganz normal wie immer, hinunter in die Küche um Mum zu begrüßen.

Ich ging zu Mum, umarmte sie und grüßte sie mit einem gemurmeltem "Hi Mum". Nachdem auch sie mich begrüßt hatte verschwand ich wieder in meinem Zimmer um meine eh schon zulange aufgeschobenen Hausaufgaben zu machen. Mathe, Englisch, Physik, Kunst. Wie jeden Freitag. Morgen war Samstag. So ziemlich der einzige Tag der Woche, den ich einigermaßen genoss, weil Mum und Dad bis Mittags arbeiteten und ich so den ganzen Vormittag alleine war. Danach kam Sonntag. Leider konnte ich mich auf diesen eher weniger freuen, da Mum und Dad nicht arbeiteten und ich keine Sekunde für mich hatte. Das versprach meistens einen Tag, bis ins Detail geplant, kein bisschen interessant oder aufregend, und schon gar nicht fröhlich oder entspannt. Meistens liefen wir einfach von einem Ort zum Anderen und wieder zurück. Das wurde dann als "Familienausflug" abgestempelt und schon sind alle glücklich. Alle außer mir. Aber, wen kümmert das hier schon?

"Und? Wie war dein Tag?" fragte Mum, die plötzlich an der Tür zu meinem Zimmer stand. Da ich gerade noch in Gedanken bei Sonntag war, fuhr ich erschrocken zusammen und drehte mich auf meinen Schreibtisch-Stuhl ruckartig herum. Mum kam fast nie in mein Zimmer, da sie fand, ich hätte es verunstaltet und geschmacklos eingerichtet. Sie fand, es wäre zu bunt. Aber bei Mum ist schon ein kleiner grüner Punkt auf einer weißen Wand zu bunt. Ich fand mein Zimmer toll. In dieser ganzen Welt aus Glas und Mamor stellte es eine kleine fröhliche Oase aus Farben dar. Alles andere wirkte immer so kalt, doch meine Wände waren in warmen Farben, wie gelb, orange oder rosa-rot gestrichen. Mein Bett war stets mit einer gemusterten Tagesdecke bedeckt und mein Teppich wies als Kontrast zu den Wänden einen hellen Kaffee-Ton auf. Meine Vorhänge (wahrscheinlich die einzigen überhaupt auf dieser Welt) waren in einem Karamell gehalten und ich änderte ihr Muster täglich. Mal gestreift, gepunktet oder kariert. Geblümt oder einfach nur in verschiedenen Tönen von Karamell. Meine Mutter fand, dass ich mein "Talent" (wie sie es nannte) lieber aufgeben oder wenigstens verstecken sollte, aber ich mochte es. Muster verschiedener Sachen zu ändern war das coolste was mir je passiert ist und ich liebte es. In diese Welt würde es wahrscheinlich als Verbrechen gelten, wenn ich irgendwas öffentlich bunter machen würde. Deswegen musste ich mich auf meine Vorhänge beschränken, die man von der Straße aus nicht sehen konnte.

"Julie?" fragte meine Mum und holte mich damit erneut aus meinem Trance ähnlichem Zustand.
"Ähhh, ja. Mein Tag war super. Wie immer. Eine 1 in Physik und eine 1+ in Kunst" erzählte ich. Schlechte Noten wurden hier nämlich nicht geduldet. Also hatte ich mich schon früh damit abgefunden immer brav zu lernen und meine Hausaufgaben zu machen.
"Gut." erwiderte sie. "Ich wollte nämlich eigentlich mit dir über Sonntag sprechen..." begann sie.
"Bitte sag mir nicht, dass der Ausflug diese Woche ausfällt." sagte ich mir gespielter Trauer in meiner Stimme.

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