6. Kapitel (Shade)

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Aus Mangel an anderen freien Plätzen wies Mr. Allen der Neuen den Platz neben mir zu, den einzigen, der noch frei war. Mit stolperndem Schritt und müden Gesichtsausdruck schlurfte sie, ihre blaue Tasche über der Schulter, auf mich zu. Sie kam mir etwas verkatert vor. Sie murmelte mir ein leises „Hi" zu und lies sich neben mir auf den Stuhl fallen. Da sie mir ein bisschen merkwürdig vorkam, stellte ich meinen Stuhl schräg und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Ihr Haar wirkte ungekämmt, als wäre sie gerade erst aufgestanden und sie schien völlig fertig zu sein. An der Farbkomposition ihrer Kleidung konnte ich keinen Gefallen finden, blau und orange zusammen waren nicht gerade ein Augenschmaus. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht durchgezecht und sich diese Katastrophe schnell in der Früh übergeworfen. Es tat beinahe schon in den Augen weh, sie anzusehen. Mal abgesehen von diesem...Unfall...sah sie mit ihren dunklen Augen und den hellen Haaren recht hübsch aus. Mit einer Hand rieb sie sich entkräftet die Schläfen, während sie mit der anderen einen Schreibblock herausholte. Sebastian, der bisher einzige halbwegs sympathische Mensch in meiner Klasse, starrte neugierig zu uns, oder besser gesagt, zur Neuen. Die Aufmerksamkeit über ihre Person nicht beachtend, begann sie, mitzuschreiben, was Mr. Allen an die Tafel schrieb. Niemand sonst schenkte ihm auch nur ein Fünkchen Aufmerksamkeit, was in Mathematik keine gute Idee war, wenn man nicht durchfallen möchte. Bald wanderten meine Gedanken wieder zu Alex, der heute in Spanisch geprüft werden würde und aufgrund unseres gestrigen Zusammentreffens im Garten keine Zeit zum Lernen gehabt hatte. Obwohl er, wie ich vermutete, lieber länger im Garten geblieben wäre anstatt zu lernen. Trotzdem würde ich das heute den ganzen Tag zu hören bekommen. Was er aber noch nicht verstehen konnte oder wollte, war, dass wir unsere Beziehung nicht öffentlich machen konnten, da er einem One-Night-Stand seiner Mutter, einer durchschnittlichen Dämonin, mit Lucifer, dem König der Hölle und somit aller Dämonen, entsprungen war, weswegen er von Lucifers Ehefrau Lillith mit allen Mitteln gesucht wurde und mein Vater, als hochrangiger Dämon einer langen Blutlinie, der einzige war, der ihn vor Lillith und somit auch vor seinem Tod beschützen konnte. Dieser würde ihn aber sicher nicht mehr schützen, wenn er von ihm und mir wüsste. Um mich davon abzulenken, was mit Alex alles passieren würde, wenn Lillith ihn fände, begann ich eine Konversation mit der Neuen, Caroline. „Hey", flüsterte ich an sie gewandt. „Hi", antwortete sie. „Du heißt Caroline, oder?", erkundigte ich mich. „Carry", verbesserte sie mich freundlich. „Und du bist?", hängte sie noch an. Eindeutig an einer Konversation interessiert. „Shade. Bitte kein Kommentar über den Namen!", warnte ich sie noch. Sie lächelte schwach, aber ich konnte sehen, dass sie etwas dazu hatte sagen wollen. Carry erinnerte mich an ein Pärchen, welches ich vor ca. sieben Jahren einmal „getroffen" hatte. Wenn ich mich recht erinnerte, hießen sie auch Black und hatten meinen Dolch, den ich immer, selbst jetzt bei mir trug, in ihrem Besitz gehabt, wenn auch nicht für allzu lange Zeit. Natürlich hatte ich ihn mir schnell wieder zurückgeholt. „Woher kommst du?", wollte ich von ihr wissen. „Aus Boston. Back Bay um genau zu sein." „Nie gehört." „Was Boston?", fragte sie aus einem mir unerfindlichen Grund grinsend. „Nein...Back Bay. " Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch und erkundigte mich gespielt besorgt: „Seh ich denn jetzt so blöd aus?" Als Carry gerade antworten wollte, unterbrach sie Mr. Allen und sagte: „Ach, plaudern Sie auch schön? Na, wenn Sie sich schon so gut verstehen, können sie doch auch gemeinsam ein Referat, als Strafe für Zuspätkommen und Nichtaufpassen im Unterricht schreiben und der Klasse vortragen. Wie wäre es mit...nächstem Montag? Thema: Hexenverbrennungen im 18. Jahrhundert. Eigentlich wollte ich dieses Thema der Klasse mit einem Film näherbringen, da sie sich jedoch freiwillig gemeldet haben, lasse ich es sie gerne auch in einem Referat vorstellen." Entrüstet von so viel Ungerechtigkeit und Strenge, schnaubte ich wütend, was mir einen bösen Blick von Mr. Allen und einen Vermerk im Register einhandelte. Carry flüsterte leise: „Wichser." Mr. Allen schaute vom Klassenregister auf und fragte: "Wünschen Sie an ihrem ersten Tag an der Christian Brothers Highschool auch einen Vermerk?" Sie biss sich auf die Lippe, um nicht weiter ausfällig zu werden, doch ich konnte sehen, dass es ihr sehr schwer fiel. In der restlichen Zeit, die es an diesem Schultag zu überbrücken galt, nahm ich Carry unter meine Fittiche, da ich wusste, wie es war, neu und alleine zu sein. Wir redeten zwar nicht viel, aber wir kamen trotzdem gut miteinander zurecht. Als es endlich zur Mittagspause läutete, wirkte Carry zuerst etwas verloren und desorientiert, bis ich sie fragte, ob sie Lust hätte, mit mir die Mittagpause zu verbringen. Sie lächelte erleichtert und nickte: „Gern." Auf dem Weg zur Cafeteria unterhielten wir uns, wie überaus unfair es von Mr. Allen war uns gleich ein Referat als Strafarbeit aufzuhalsen. Unsere Schule war recht groß und weitläufig. Man konnte sich leicht darin verirren, wenn man sich nicht auskannte. Die Cafeteria war am anderen Ende der Schule und sie war schlecht zu übersehen, da sie ein riesiger Betonkomplex war, auf den alle Schüler zusteuerten. Nachdem wir uns bei der freundlichen Cafeteriadame unser zweitklassiges Mittagessen, ein Truthahnschnitzel mit Kartoffelpüree, geholt hatten, machte ich mich, mit Carry an der Seite sofort auf den Weg, zu Alex' und meinem üblichen Tisch, der am hinteren Ende der Cafeteria stand und zu dem sich sonst niemand getraute. Carry schien sich umzusehen, als schien sie jemanden zu suchen, aber da sie mir weiterhin folgte, nahm ich an, dass sie diese Person nicht gefunden hatte. Alex saß schon da und hatte bereits fast fertig gegessen, obwohl er nicht lange vor uns herkommen sein konnte. Ich bedeutete Carry, ihr Tablett auf dem Nebentisch abzustellen und flüsterte ihr zu: „ Geh hinter ihn und halt ihm die Augen zu!" Verwirrt zuckte sie mit den Achseln und grinste. Das war eine Probe, ob sie Humor besaß. Leise stellte sie sich hinter ihn und hielt ihm die Augen zu. Ich sagte statt ihr: „Wer bin ich?" Alex schmunzelte und meinte: „Sarah? Oder vielleicht doch Violett? Oder Ashley?" Ich lächelte, wissend, dass es ein Scherz war. Ohne Vorwarnung packte er Carry am Handgelenk, stand auf, drehte sich um und küsste sie in derselben Bewegung. Carry riss die Augen auf und auch Alex wirkte arg verblüfft, als er erkannte, dass er nicht mich küsste. Bevor er jedoch irgendetwas machen oder sagen konnte, schlug ich ihn reflexartig. Aus Schreck taumelte Alex rückwärts und stieß mit der Hüfte gegen den Tisch. Einige der Umstehenden hatten die Szene bemerkt und sich neugierig zu uns umgedreht. Kaum hatte er sich vom Schock erholt, entschuldigte er sich sofort bei uns beiden für das Missverständnis: „Ähm...das ist mir jetzt irgendwie peinlich." Nervös fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. An Carry gewandt meinte er: „Tut mir leid, ich dachte, du wärst Shade." Sie hingegen lachte ihn an und erwiderte: „So schlimm fand ich es jetzt auch wieder nicht. Außerdem wurde ich noch nie so herzlich begrüßt." Nun musste auch Alex lachen und kam dann endlich auf mich zu, um mit einem richtigen Kuss um Verzeihung zu bitten, da meine Schwester sowieso schon Bescheid wusste, falls sie es sehen sollte. Als ich mich endlich losreisen konnte, da es für Carry sicher zu unangenehm wurde, lächelte ich ihn an und meinte: „Sieh zu, dass so was nicht noch mal passiert." Ihm fielen ein paar Haarsträhnen in die Augen und lächelte mich von oben an: „Versprochen." Nach dem Essen, bei dem wir uns köstlich unterhalten hatten, fragte Alex: „Gehen wir nachher noch ins Puzzles?"

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Shadow of LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt