Es war die wohl größte Achterbahn, in der ich je war. Vor dem eigentlichen Eingang stand ein Kartonmännchen, welches mit einer Hand deutete, wie groß man mindestens sein musste, um den „High Mountain" besteigen zu dürfen. Obwohl ich noch nie als besonders klein gegolten hatte, passte ich nur knapp durch. Mit einer Rolltreppe wurden wir nach oben gefahren. Gegen meinen Willen musste ich nach unten schauen. Es war ein unbezwingbarer Drang. Hätte ich es nur nicht getan. Mit zitternden Beinen folgte ich den anderen, als wir oben angekommen waren. Zu ihrem Glück und meinem Pech konnten wir in der ersten Reihe sitzen, da immer vier Plätze nebeneinander waren. Während die anderen lachend versuchten, einen der zwei Plätze in der Mitte zu beschaffen, musste ich mit einem der äußeren Plätze vorlieb nehmen. Als wir bereits alle saßen und nur darauf warteten, dass auch die letzten Passagiere einen Sitzplatz fanden und sich ordnungsgemäß anschnallte, versuchte ich mich abzulenken, in dem ich mich wiederholt fragte, wer wohl die beiden Männer gewesen waren, die Shade und Alex gefolgt waren. Könnte es sein, dass es Derek und Ronan gewesen waren? Immerhin waren sie Freunde, soweit ich wusste. Tausendmal kontrollierte ich, ob der Gurt wirklich saß, da ich unter Wahnvorstellungen litt. Was tat ich mir da nur an, wenn ich mich schon vor Aufzügen fürchtete? Tja, der Gruppenzwang. Vom anderen äußeren Sitz beugte sich Sam über Tony und Julia zu mir, um mich zu fragen, ob mein Gurt richtig säße. „Hey, Alter, chill mal", meinte Tony, da er sich von Sam bedrängt fühlte. Peinlich berührt setzte Sam sich wieder auf seinen eigenen Sitz und schnallte sich selbst an. „Es geht los in drei", ich dachte an alle, die ich liebte, „zwei"; ich hatte mit meinem Leben bereits abgeschlossen, „eins!" Hilfe.
Die Fahrt war ein Wechselband der Gefühle für mich. Das „High Mountain" war nicht umsonst die schnellste Achterbahn in ganz Tennessee. Als wir endlich aussteigen durften, war mir mehr als nur schlecht. „Nochmal", bat Tony und lachte aus vollem Hals. Noch immer unter Schock wandte ich mich panisch an ihn: „Nein, nicht nochmal!" „Du bist so blass...wirklich alles okay?", fragte Julia. Ich nickte bloß schwach. Der Regen peitschte noch immer in mein Gesicht, bis wir uns schnell einen Unterstand suchten. Neugierig hielt ich die Augen nach Alex oder Shade offen, doch niemand hier kam mir bekannt vor. Zusammen hatten wir uns um einen kleinen Tisch versammelt. „Wir holen uns Kaffee, wollt ihr auch was?", erkundigten sich Tony und Sam. Aus Angst, das Getränk nicht bei mir behalten zu können, schüttelte ich dankbar den Kopf. „Mir bitte auch einen!"; rief Julia ihnen hinter ihnen her. Völlig fertig legte ich meinen Kopf in meine Hände und versuchte ich, gleichmäßig durchzuatmen. Ich konnte Julia in ihrer Tasche wühlen hören, als sie an mich gerichtet fragte: „Was ich dich eigentlich schon vorher hatte fragen wollen: Wo hast du deine Tasche gelassen?" Siedend heiß kam mir in den Sinn, dass diese sicher noch im Puzzles lag und dort von den nächstbesten Obdachlosen durchwühlt wurde. Wer weiß, wen diese zwei alles in ihre Bar ließen. „Nein...", murmelte ich lustlos. „ Was denn?" „Ich habe meine Tasche im Puzzles vergessen". „Wo?", hakte sie verwirrt nach. „Ach, so eine Bar, in der ich mit Alex und Shade heute war." „Kommt mir vage bekannt vor...Soll ich dich begleiten?" „Nein, danke. Dann sind Tony und Sam ja allein hier. Und das will ich dem Park wirklich nicht zumuten. Wir können uns in ca. einer halben Stunde Zuhause treffen. Dan kümmern wir uns um diese Werwölfe." Sie nickte, holte ihr Handy heraus und rief mir freundlicherweise ein Taxi.
Unvorbereitet knallte ich die Taxitür hinter mir zu. Julia hatte netterweise für mich bezahlt, allerdings hatte ich ihr versprochen, es ihr zurückzugeben. Immerhin hatten sie mir schon die Fahrt im „High Mountain" bezahlt. Die Sonne war bereits untergegangen, sodass die Buchstaben der Leuchtreklame noch heller leuchteten, als sie es bei Tag schon taten. Sie wollten wohl unbedingt auf sich aufmerksam machten, dachte ich schmunzelnd. Nachdem ich noch einen tiefen Atemzug getan hatte und mir erstmals meiner nicht zusammenpassenden Kleidung bewusst wurde. Und meiner tausend anderen Schwächen. Verzweifelt hoffte ich, dass die Bar noch geöffnet hatte. Mit schnellen Schritten hielt ich auf die Bar zu, inständig betend, dass noch einer der beiden da war. Zu meinem Pech hing das Geschlossen-Schild an der Tür und die Lichter waren bereits aus. Enttäuscht seufzte ich und drehte mich bereits wieder zur Straße, um nach Hause zu gehen. Plötzlich hörte ich, wie sich hinter mir die Tür zum Puzzles öffnete. „Carry?", kam es von hinten überrascht. Vor Erleichterung tief einatmend wandte ich mich Ronan zu, der gerade aus der Tür des Puzzles trat. „Was machst du hier?", fuhr er neugierig fort und hob eine Augenbraue. Sein langer dunkelbrauner Mantel wehte um seine Füße. Es fehlte nur noch der Nebel, dann wäre er der nächste Bösewicht in einem Film. „Ähm...ich habe meine Tasche bei euch vergessen und wollte schauen, ob einer von euch noch hier ist...damit ich sie holen kann", erwiderte ich nervös. „Natürlich, komm mit rein, dann können wir nachschauen", bot er mir an und öffnete mir die Tür. „Was für ein Gentleman", murmelte ich leise, während ich hindurchtrat. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Kurz stand ich in vollkommener Dunkelheit, bevor er das Licht einschaltete und zum ersten Mal sah ich die Bar leer. Die Tische standen an der Seite und einige natürlich direkt vor dem Barthresen, damit sich die beiden Brüder nicht zu sehr auf ihre Arbeit konzentrieren und mit den verschiedensten Leuten reden, beziehungsweise flirten konnten. Die Tanzfläche wurde von einer Stripstange dominiert, um die herum mehrere Tische standen. Schon komisch, was mir vorher nicht aufgefallen war. Kein Wunder, dass die Bar so beliebt war, wer wusste, wer hier so auftrat. „Ah, da ist sie ja", tönte es von einem Tisch, der mir bekannt vorkam. „Ist das deine?", fragte er und hielt sie mir hin. „Ja, danke. Tut mir leid, dass ich dir solche Umstände gemacht habe." Zerknirscht blickte auf den Boden, um einen Abschiedsgruß verlegen. „Das waren doch keine Umstände. Mach ich doch gern für dich...wenn du zum Dank noch für einen Drink bleibst?"

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Shadow of Light
FantasyDie zwei Jugendlichen Carry und Shade könnten unterschiedlicher nicht sein: Carry ist seit dem Tod ihrer Eltern eine erbarmungslose Jägerin aller übernatürlichen Spezies, während Shade ihr Leben als Dämon in vollen Zügen genießt. Als die beiden das...