55 - Tattoos

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Ein paar Stunden später saß ich mit Harry in seinem Wohnzimmer und bewunderte die geraden Linien auf meinem Handgelenk. „choose.", stand in einer Schreibmaschinenschrift auf meiner Haut und erinnerte mich daran, dass ich selber wählen musste. Ich konnte nicht mehr von anderen abhängig sein, konnte mein Leben nicht mehr so leben, wie es meine Eltern vorbestimmten, sondern musste meinen eigenen Entscheidungen folgen. Der Schriftzug erinnerte mich von nun an für immer daran und die kleine Größe hatte es mir nicht allzu schlimm gemacht. Zwar waren die Minuten, in denen Em mir die Nadel in mein Handgelenk gerammt hatte, die Hölle, doch die Zeit war schnell vergangen.

„Was ist dein größtes Tattoo?", fragte ich neugierig und dachte an den Schmerz, den Harry in der Zeit des Stechens wohl ausgehalten haben musste. Ich hatte bis jetzt nur ein paar Bilder auf seinen Armen erkennen können, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er größere auf seinem Körper tragen würde. Harry stolzierte so aufrichtig mit den ewigen Kunstwerken auf seinem Körper herum, dass er garantiert noch eines hatte, das alle anderen in den Schatten stellte.

Der Lockenkopf lachte und zog überrascht seine Augenbrauen in die Höhe: „Wie kommst du denn jetzt darauf?", fragte er und ich erkannte, wie unerwartet ihn meine Frage erwischte. Eigentlich sollte ich ihn Begriffe aus seinem Studium von Karteifragen abfragen, die er auswendig können musste, doch ich war schneller in meinen Gedanken abgedriftet, als er es erwartet hatte.

„Einfach so.", meinte ich schulterzuckend und lächelte ihn an. „Also sag schon – was ist dein größtes Tattoo? Hat es weh getan?" Ich saß im Schneidersitz neben Harry auf der weichen Couch und sah ihn neugierig an.

„Keine Ahnung welches das größte ist – willst du ein paar sehen?" Ohne mir etwas dabei zu denken, nickte ich schnell und konnte meinen Augen nicht trauen, als Harry anfing schelmisch zu grinsen und sein T-Shirt langsam nach oben zog. Erst jetzt fiel mir auf, wie mehrdeutig meine Frage geklungen haben musste, schließlich konnte man sie auch als Aufforderung sich auszuziehen verstehen und das war definitiv nicht meine Absicht, doch bevor ich etwas erwidern konnte, saß der Lockenkopf mit freiem Oberkörper vor mir und entblößte mir ein paar überaschende Tattoos.

Kaum hatte ich den ersten Schock über seine plötzliche Nacktheit überwunden und schaffte es meinen Blick vom gesamten muskulösem Oberkörper zu nehmen, konnte ich mich auf mein eigentliches Vorhaben konzentrieren. Mitten auf seiner Brust ragte ein Schmetterling – oder war es eine Motte? – mit ausgebreiteten Flügeln und schien seinen Besitzer selbstbewusst zu bewachen, aber auch direkt unter seinem Schlüsselbein flog jeweils eine Schwalbe auf jeder Seite. Sie sahen wunderschön aus, doch das einzige, was meinen Blick in seinen Bann zog, war das angedeutete Tattoo von einer Pflanze, die sich jeweils von seinen Hüftknochen bis unter den Bund seiner Hose schlängelte und einen nur erahnen ließ, wo sie hinführen – ich musste mich zusammenreißen nicht die ganze Zeit hin zu starren.

„Die sind echt schön.", gestand ich mit rauer Stimme und zwang mich wieder nach oben in Harrys amüsierte Augen zu sehen. Leider zog mich das unterste Bild immer wieder zu sich in die unbekannten tiefen, sodass ich trotzdem immer wieder hin schielen musste. Was war nur los mit mir? Mein Herzschlag hatte sich scheinbar verdoppelt und meine Wangen wollten das warme Gefühl gar nicht mehr los werden – ich kam mir wieder vor wie die zwölfjährige, die gerade kurz davor war, ihren ersten Kuss zu bekommen.

Ohne es verhindern zu können legte ich meine Hand vorsichtig auf seine warme Haut und fuhr die äußeren Linien des Schmetterlings entlang – das war das einzige Kompromiss, zu dem mein Körper im Stande war. Wenn ich schon nicht die Linien in der unteren Gegend berühren wollte, dann musste ich mich einfach auf den großen Blickfang konzentrieren, der wenigstens in einer weniger pikanten Gegend lag.

Harry zog leise die Luft ein, vielleicht war er überrascht von meiner kalten Hand, doch trotzdem zog er nicht zurück. Stattdessen rutschte er ein weiteres Stück näher an mich heran und biss sich unbewusst auf seine Lippe. Ich konnte meinen Blick nicht mehr abwenden, konnte meine Hand nicht von seiner Haut nehmen, es war, als hätte sich alles um uns herum in Luft aufgelöst, als würde es nur Harry und mich geben und als würde dieser Moment für immer anhalten.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, beugten wir uns gleichzeitig nach vorne und sorgten damit für eine Berührung unserer Lippen, die mir den Atem raubte. Es schien sich ein Stromschlag durch meinen ganzen Körper zu ziehen, der in meinem Bauch für ein wohliges Kribbeln sorgte und meine Haut mit einer Gänsehaut überzog. Endlich konnte ich meine Hände von dem Tattoo auf seiner nackten Brust nehmen, aber nur um sie an seine Wangen zu legen und seinen Kopf noch näher und fordernder in meine Richtung zu ziehen.

Seine Zunge fand problemlos ihren Weg, als ich mich langsam nach hinten legte und Harrys nackte Brust auf mich drückte. Ich schlang mein Beine um seinen Körper und genoss den Kuss in vollen Zügen – wieso machten wir das nicht ständig? Mein Gehirn verabschiedete sich gemeinsam mit meiner Vernunft und ließ mich und meine Handlungen alleine mit meiner Lust zurück. Ich wollte Harry einfach weiter berühren, wollte ihn für immer auf diese Weise spüren, wollte, dass dieser Moment niemals enden würde. Ich lächelte in den Kuss hinein und beschloss meine Augen nie wieder zu öffnen.

Doch kam, wie es kommen musste, sodass unser intimer Moment schon bald unterbrochen wurde. „Harry ist... oh, hallo!" Es war Mason, der uns scheinbar sofort entdeckt hatte. Schnell wichen Harry und ich voneinander weg – was war grade passiert? – und richteten uns auf. Ich fuhr mir peinlich berührt durch die Haare, während mein Prinz versuchte sich so schnell und elegant wie möglich, sein T-Shirt wieder über den Kopf zu ziehen. Ich wollte nicht, dass er sich wieder verdeckte, wollte ihn doch eigentlich für immer ansehen können, doch mit Mason im Raum war die ganze Stimmung verschwunden.

„Kannst du nicht anklopfen?!", fragte Harry und ging auf seinen Kumpel zu. Er war deutlich außer Atem, doch mir ging es nicht anders. Noch immer klopfte mein Herz, als würde es jeden Moment aus meiner Brust springen und meine Lunge zog jedes bisschen Sauerstoff ein, das sie in kurzer Zeit zu sich nehmen konnte.

„Ich wohne auch hier, außerdem konnte ich ja nicht ahnen, dass du... dass ihr beschäftigt seid.", sagte Mason und lehnte sich grinsend an den Küchentresen an.

„Halt die Klappe.", fuhren Harry und ich ihn gleichzeitig an, was sein Lachen nur noch lauter macht.

„Wolltet ihr mir nicht beide vor ein paar Tagen noch klar machen, dass zwischen euch nichts läuft?" Das tat es doch auch nicht, oder? Wir waren nur für einen Augenblick schwach geworden und hatten uns in dem Moment verloren.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt