56 - Falsche Deutungen

1K 77 7
                                    

Nachdem ich die Wohnung von Harry unter den wachsamen Augen von Mason fluchtartig verlassen hatte, brauchte ich erst einmal ein bisschen Zeit für mich und war unheimlich erleichtert, als ich feststellte, dass Toni sich nicht in unserem Zimmer aufhielt.

Ich schlüpfte aus meinen Sneakers und legte mich bäuchlings auf mein Bett – eigentlich hatte ich vorgehabt ein paar Serien zu schauen und meinen Vorrat an Popcorn aufzubrauchen, doch kaum lag ich in der bequemen Position und kam ein bisschen zur Ruhe, merkte ich, wie quer mir der Moment zwischen meinem Prinzen und mir im Magen lag. Ich hatte auf einmal das Gefühl, jeden Bissen sofort wieder auskotzen zu müssen und verschwand schneller in meinen Gedanken, als es gebraucht hätte, meinen Laptop aufzuklappen.

Wie waren Harry und ich nur in solch eine intime Situation geraten? Er hatte halb nackt auf mir gelegen, hatte seinen Körper gegen meinen gepresst und mich dazu gebracht, unsere Nähe zu genießen.

Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, doch jedes Mal, wenn ich mich an das Gefühl erinnerte, welches meinen Körper durchströmt hatte, sobald sich unsere Lippen berührt hatten, durchzog mich ein weiteres Kribbeln in meinem Bauch. Ich kam mir vor, wie ein kleines verknalltes Mädchen, das alles viel zu dramatisch sah. Was war nur los mit mir?

Die komplizierte Beziehung zwischen dem Prinz und seiner Prinzessin war auch nach jahrelanger Stille erhalten geblieben. Ich dachte zurück an Harrys fordernden Kuss, erkannte, dass er selbst unheimlich viele Erfahrungen hatte und hoffte inständig , dass er sich nicht genügend Gedanken um unser Verhältnis machte, um heraus zu finden, wie wenig ich eigentlich wusste. Ich hatte noch nicht viele Typen geküsst, hatte trotz meines Alters noch nie mit einem geschlafen und verwandelte mich langsam aber sicher wieder in den verknallten Teenager, den ich vor sieben Jahren so verabscheut hatte.

„Du bist ja wieder da!", begrüßte mich Toni, als sie gerade in unser Zimmer gestürmt kam. Sie trug in ihren Händen einige Papiershoppingtüten, vermutlich war sie mal wieder mit der Ökotusse unterwegs gewesen, und strahlte mich einen Moment lang an.

„Bin noch nicht lange hier.", murmelte ich jedoch nur leise und deutete auf meinen Laptop, der noch immer geschlossen vor mir auf dem Bett lag. Wie sollte ich nur jemals wieder klar denken können?

„Warst du bei Harry?", fragte sie eindeutig neugierig und traf damit einen wunden Punkt, den ich eigentlich verschließen wollte.

Ich bejahte kurz, verzichtete jedoch absichtlich auf weitere Ausführungen. Sollte ich ihr davon erzählen? Dann könnte ich wenigstens mit jemandem reden, außerdem vertraute ich Toni genug, um ihr solche Dinge anzuvertrauen, doch irgendetwas hielt mich zurück.
„Ist etwas vorgefallen?" Sie setzte sich vorsichtig zu mir aufs Bett und ich nahm langsam die gleiche sitzende Haltung ein. Sie hatte mal wieder ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und ich kam nicht darum herum festzustellen, wie gut ihr diese Frisur stand. Normalerweise ließ sie sie offen über ihre Schultern hängen, doch auf die jetzige Weise kamen ihre braunen Augen viel mehr zum Vorschein.

Mir war klar, dass ich mich nur auf ihr Aussehen zu konzentrierte, um mich abzulenken. Ich musste Toni von Harry erzählen, sie würde meine Situation vermutlich noch eher nachvollziehen können, als Jim, selbst wenn sie nicht die ganze Geschichte kennen durfte. Ich musste mich ihr einfach anvertrauen, andernfalls würde ich noch verrückt werden, doch wie sollte ich das anstellen?

Ehe ich einen weiteren Entschluss treffen konnte, sprach mein Körper, ohne die Anweisungen meines Gehirns auch nur zu beachten: „Wir haben uns wieder geküsst.", meinte ich verlegen und erkannte, wie sich Tonis Augen überrascht weiteten.

„Wieder?" Offenbar hatte ich sie mit der Neuigkeit mehr überrascht, als es Mason gewesen war. Also fing ich vorne an und erklärte ihr, wie es zu unseren beiden Küssen vor ein paar Tagen gekommen war. Die ganze Zeit lauschte mir Toni interessiert und animierte mich dazu, fortzufahren.

„Dann hat er mir vorhin die Tattoos auf seiner Brust gezeigt – irgendwie habe ich ihn darum gebeten, aber ich hatte ehrlich keine Hintergedanken dabei! – und dann ist es einfach wieder passiert. Ich weiß gar nicht wie es dazu kommen konnte, doch dieses Mal war der Kuss einfach... heftiger." Ich verschwieg ihr, dass wir definitiv rumgemacht hatten und ein einfacher Kuss weit davon entfernt war. Wieder durchzog mich ein kleines Kribbeln, als ich an unseren Moment dachte.

Ich machte automatisch eine Pause, um in meinen Erinnerungen zu schwelgen, die Toni jedoch sofort falsch zu verstehen schien. „Habt ihr etwa miteinander geschlafen?", fragte sie fassungslos und starrte mich mit riesigen braunen Augen an. Traute sie mir etwas Derartiges tatsächlich zu?

„Was?!", fragte ich fassungslos. „Nein, natürlich nicht!" Ich musste anscheinend wirklich auf meine Wortwahl achten, scheinbar interpretierten alle meine Worte vollkommen falsch. Die einen nahmen sie als Aufforderung sich auszuziehen und die anderen hielten mich dadurch für eine Schlampe – was machte ich nur falsch?

„Zum Glück, Mara würde dich sonst umbringen.", gestand Toni erleichtert und erinnerte mich an einen weiteren Punkt, warum das mit Harry niemals so weiter gehen durfte.

„Und genau das meine ich! Wie soll ich mich denn auf ihn einlassen können, wenn Harry solche Beziehungen führt und sicherlich nicht nur mit Mara auf Freunde mit gewissen Vorzügen macht?" Auch wenn ich mich selbst nicht als Mensch für Beziehungen sah und keine in nächster Zeit eingehen wollte, wollte ich mich nicht in eine Schlampe verwandeln, die solche Freundschaften pflegte. Ich wusste nicht, was ich mir von Harry und unserer Situation erhoffte, doch ich wusste ganz genau, wozu ich niemals bereit sein würde.

Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Was ist bloß los mit mir?", sprach ich endlich die Frage laut aus, die mich seit Stunden begleitete und auf die ich keine Antwort wusste.

Toni legte mir beruhigend ihre Hand auf die Schulter und drückte beruhigend zu: „Ich denke du bist einfach verknallt in Harry, doch möchtest gleichzeitig eure Freundschaft nicht zerstören.", schlussfolgerte Toni.

„Ich glaube ich hätte lieber eine Jurastudentin als Mitbewohnerin, dann würde sie jetzt nicht meine Psyche analysieren, sondern sich um einen guten Fluchtweg für mich aus dieser Situation bemühen.", meinte ich mit einem Lächeln auf den Lippen, sodass Toni sofort erkannte, dass ich meine Worte natürlich nicht ernst meinte. Trotzdem hätte ich auf diese kleine Psychoanalyse gut verzichten können.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt