54 - "Choose"

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„Ist Will eigentlich schon wieder gefahren?", fragte ich neugierig, als Harry den Wagen vor eine Tattoostudio stoppte. Er wollte irgendwas abklären und hatte gefragt, ob ich ihn begleiten würde. Da ich die Wahl zwischen weiterer Zeit mit Harry hatte oder für mein eigenes Studium zu lernen, das ich inzwischen immer weiter in den unauffälligen Hintergrund schob, fiel mir die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Außerdem hatte sich in meinem Hinterkopf noch immer die Idee eines eigenen ewigen Bildes auf meiner blassen Haut abgesetzt, die ich an diesem Nachmittag vielleicht verwirklichen konnte.

„Ja, es gab irgendeinen Notfall in seiner Firma – er hat mir heute Morgen kurz geschrieben.", klärte mich Harry auf und schloss sein Auto von außen ab. Der schwarze Wagen sah ziemlich neu und teuer aus, doch so genau hatte ich mich nie mit den Fortbewegungsmitteln beschäftigt, schließlich bildeten auch sie nur eine weitere Visitenkarte des eignen Reichtums und dieses protzige Verhalten verabscheute ich seit Jahren.

Das Studio an sich sah ziemlich unscheinbar aus, doch kaum betraten wir den kleinen Raum, fühlte ich mich in eine Zeit zurück versetzt, in der ich meinen besten Freund in Ohnmacht fallen gesehen hatte. Es sah absolut gleich aus, an den Wänden hingen Beispielbilder und in einem der hinteren Räume konnte ich das Stück einer Liege ausmachen, auf der auch Harrys Onkel gelegen hatte, als der Lockenkopf das Bewusstsein verlor.

„Harry!", rief eine blonde Frau begeistert. Ihr ganzer Körper war voller Bilder, die ihre Arme bis zu ihrem Hals hinauf reichten. Sie trug ein luftiges Top, dass so viel Haut zeigte, dass ich sofort ins Staunen kam – das waren wirklich viele Tattoos. Sie sah toll aus.

„Em", sagte Harry mit demselben Enthusiasmus und umarmte die bildhübsche Frau herzlich. Ich stand lediglich daneben und fragte mich unweigerlich, wie innig ihre Beziehung wohl in Wirklichkeit war. Ob er mal was mit ihr hatte? Ich bereute den Anflug der Eifersucht binnen weniger Sekunden und verbannte ihn daher sofort aus meinem Gehirn. Die Frau schien nett, also hatte ich keinen Grund sie aus Protest nicht zu mögen. So war ich nicht, so wollte ich nicht sein.

„Du siehst gut aus.", meinte sie und berührte beeindruckt Harrys Oberarme. Er lächelte nur und ein weiterer Anflug der Eifersucht drohte mich zu überrollen, daher tat ich das einzige, was ich in Situationen tun konnte, die mir unangenehm waren – ich fing an zu reden: „Hallo, ich bin Lia." Ich streckte ihr meine Hand so aufdringlich entgegen, dass sie gar nicht anders konnte, als meinen Freund in Ruhe zu lassen und mich anständig zu begrüßen. „Ich will auch ein Tattoo – allerdings weiß ich noch nicht so genau was. Gibt es hier irgendwelche Beispiele die ich mir anschauen kann? Am besten du zeigst mir einfach ein paar, ich werde sicher noch einige Fragen haben." Die Frau war höchstens Mitte zwanzig, daher sah ich mich nicht bereit, sie zu siezen – aus dem Augenwinkel sah ich, wie Harry schmunzelnd den Kopf schüttelte.

„Klar, komm mit, ich zeige dir ein paar.", antwortete Em direkt, auch wenn sie über mein erscheinen mehr als verwundert schien. Vermutlich umgab mich einfach keine Tattoo-Aura, die allen sofort sagte, dass ich ein Mensch für diese Art der Körperkunst war. Ich setzte alles darauf, dass ich diese Wirkung erhalten würde, sobald ein paar Bilder meine Haut zierten.

Die Blonde holte einen riesigen Ordner und drückte ihn mir in die Hand. „Hier", sagte sie und schlug ihn für mich auf. „Am besten du schaust dir erst mal ein paar Bilder an und dann beantworte ich deine Fragen." Das war kein freundliches Verkaufsgespräch, sie hatte mich eiskalt abgewimmelt, um sich wieder Harry zuzuwenden.
„Wie geht es dir?", fragte sie an den Lockenkopf gewandt und inspizierte gerade eines seiner Tattoos auf seinem Arm – ob sie ihm das gestochen hatte?

Ich zwang mich einen echten Blick in den Ordner zu werfen und die beiden vor mir zu ignorieren, es war schließlich Harrys Sache, mit wem er etwas hatte und wenn er auf tattoowierte Supermodels stand, dann konnte ich da einfach nicht mithalten.

Ich sah mir einen Haufen protzige Bilder an, die allesamt nur für Typen mit Minderwertigkeitskomplexe geeignet waren, da sie diese mit solchen Tattoos zu kompensieren versuchten, doch als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, erreichte ich ein Segment, der wesentlich strukturiertere und feinere Zeichnungen zeigte. Ein paar von ihnen erregten wirklich meine Aufmerksamkeit.

Als ich an einem Schriftzug hängen blieb, war die Sache für mich klar – das wollte ich auf meiner Haut stehen haben. Es war schlicht und eigentlich hatte ich etwas vollkommen anderes gesucht, selbst ein Portrai von Kurt Cobain wäre mir vorher in den Sinn gekommen, doch kaum streiften meine Augen über dieses Bild wusste ich es.

„Das will ich.", sagte ich begeistert und lächelte verzaubert in die richtung der beiden Turteltauben, die mich auf einmal nicht mehr interessierten. Ich war bereit etwas für die Ewigkeit auf meine Haut stechen zu lassen und das fühlte sich einfach toll an. Die beiden unterbrachen ihr Gespräch und kamen auf mich zu.

„Choose?", fragte sie verwirrt und wollte sicher gehen, ob sie mich richtig verstanden hatte.

„Ja, es ist perfekt.", gestand ich und deutete auf mein Handgelenk, eine Stelle, die ich immer wieder sehen würde. Ich wollte etwas, was mich an meine Möglichkeiten erinnerte – ich war alt genug, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, war alt genug, um mein Leben selbst zu wählen.

„Das passt und ist zum Glück nicht zu groß.", antwortete Harry und ich wusste auf Anhieb, dass er meine Absichten problemlos verstand. Doch der letzte Teil seines Satzes ließ mich stutzen, dachte er etwa ich würde mit dem Schmerz nicht auskommen?

„Freu dich nicht zu früh, das Gesicht in Originalgröße von Kurt Cobain kommt als nächstes dran.", antwortete ich trocken und merkte, dass sich seine Augen für einen kurzen definierbaren Moment weiteten, ehe er den Sarkasmus in meiner Stimme erkannte. Offenbar traute er mir etwas so drastisches durchaus zu.

„Wie alt bist du?", fragte die Blonde ernsthaft und schien wirklich zu Zweifeln, ob ich alt genug für ein Tattoo war. War das ihr ernst? Sie machte sich von Minute zu Minute unbeliebter und das lag nicht nur an meiner nervigen Eifersucht.

„Neunzehn", sagte ich gereizt. Sehe ich wirklich so jung aus? Als sie sich dann auch noch erlaubte ein Nicken von Harry abzuwarten, platzte mir der Kragen. „Der Typ hier ist nur neun Monate älter als ich.", klärte ich sie auf und gab mir keine Mühe, meine Abfälligkeit zu verbergen.

„Fast zehn! Als ich geboren wurde, warst du noch nicht mal in Planung." Warum musste sich Harry mit seinen nervigen und doch wunderschönen Grübchen immer einmischen und meine Momente kaputt machen?

„Ist doch egal, stichst du mir den Schriftzug jetzt, oder muss ich mir selbst ne Nadel und Tinte holen?" Ich war mehr als genervt, doch das schlimmste an der Situation war, dass ich nicht genau wusste, ob mir die Frau einfach nur unsympathisch war, oder ob es an ihrer Aufdringlichkeit gegenüber Harry lag. 

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt