45 - Erklärungen

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„Vermutlich um mich zu kontrollieren.", antwortete Harry nach einer kurzen Überlegungsphase bitter. Er freute sich sichtlich wenig, über das bevorstehende Treffen mi seinem großen Bruder. „Meine Mutter wird ihn geschickt haben, damit sie sich sicher sein kann, dass ich kein Drogensüchtiger Junkie geworden bin, den sie sicherlich dank der Tattoos in mir sieht." Die Worte schienen meinem Prinzen ziemlich leicht von der Seele zu kommen und ich fragte mich unweigerlich, ob das an mir lag, oder er einfach keine große Sache für ihn war.

„Das ist verrückt – du bist einer der vernünftigsten Menschen, die ich kenne." Das war wahr, schließlich lernte Harry pausenlos und trank nie viel Alkohol – zumindest hatte ich davon bis jetzt nichts mitbekommen – also warum vertraute seine Mutter ihm nicht? Es war merkwürdig zu sehen, dass nicht nur meine Familie eine Therapiesitzung nötig hatte. Warum hatte er mir nicht vorher davon erzählt?

„Du hast ja auch nicht so viele positive Beispiele – außerdem betrinkst du dich, sobald du einen Tropfen Alkohol siehst.", gab Harry lachend zurück und signalisierte mir damit, dass er nicht mehr ernst sein wollte.

„Das ist alles Masons schuld!", beteuerte ich schmunzelnd. „Er mischt schließlich diese unwiderstehlichen Getränke."

Harry stand lächelnd auf und offenbarte mir wieder einmal seine Grübchen, die aus näherer Betrachtung wesentlich besser zu ihm, als zu seinem Bruder, passten. „Ich sollte vielleicht mal reingehen.", meinte er leise und atmete tief durch.

Ich war schon traurig, dass er mich einfach so alleine im Treppenhaus sitzen ließ, doch als er mir seine Hand hinhielt, wusste ich, dass er wollte, dass ich bei ihm blieb. Ich konnte nicht erklären woher mein Wunsch zur Nähe kam, konnte nicht definieren, warum er mir nach so kurzer Zeit wieder so viel bedeutete, doch ohne auf meine Gedanken zu hören, ergriff ich sein Angebot.

„Dann wollen wir mal.", murmelte er leise und hielt meine Hand auch dann noch fest, als ich längst auf meinen Beinen stand. Warum tat er das?

Da ich jedoch nicht die erste sein wollte, die den Kontakt, der sich wirklich gut anfühlte, unterbrach, ließ ich es einfach geschehen und ging neben ihm her, um die Wohnung zu betreten.

„Hallo, Will.", sagte Harry ruhig, aber spielte ihm keine Wiedersehensfreude vor.

„Harry.", antwortete Will genauso gelassen, jedoch spielten sich auf seinem Gesicht ein wenig mehr freundliche Regungen ab. Ich konnte jedoch nicht genau sagen, ob das freundliche Lächeln nur ein Produkt seiner Arbeit war oder tatsächlich zu Recht sein Gesicht zierte. „Ich bin froh dich endlich mal wieder zu sehen." Und das schien er wirklich zu sein, denn er zog seinen kleinen Bruder in eine herzliche Umarmung, die Harry dazu brachte, meine Hand loszulassen.

Ich entfernte mich unauffällig von den beiden und machte mich auf den Weg in die offene Küche, an deren Ablage Mason gelehnt stand. „Danke, fürs leihen.", meinte ich leise und reichte ihm sein Handy.

„Danke, fürs alleine lassen.", antwortete der Blonde säuerlich und sah mich beleidigt an. „Das waren die schlimmsten zehn Minuten meines Lebens. Der Kerl gefällt mir nicht."

„Er ist in Ordnung.", gab ich zurück und ging gar nicht auf die Zeit ein, die ich ihn einfach alleine gelassen hatte.

„Das kann ja sein, trotzdem hat Harry ihn nie mit irgendeinem Wort erwähnt. Ist es dann nicht merkwürdig, dass er ausgerechnet jetzt das erste Mal seit einem Jahr auf der Matte steht?"

„Er wollte einfach seinen Bruder sehen und du kennst Harry doch genau! Er erzählt nie etwas Persönliches über sich." Das hatte Mason schon einmal bemängelt, aber damals hatte ich nicht erkannt, wie traurig er darüber war. Dabei konnte der Junge mit den hypnotisierenden Augen nichts dafür – der Lockenkopf war einfach in einer Welt aufgewachsen, die uns darauf schulte, nicht zu viele Details aus unserem Leben nach außen dringen zu lassen. Dazu kam noch, dass man sich für die vielen Aktionen unserer Eltern schämen konnte und der Cocktail aus Verschwiegenheit war perfekt. Es war also vollkommen erklärbar, dass Harry sich seinem besten Freund nicht anvertraut hatte – der schien das jedoch anders zu sehen.

„Ich dachte einfach, er würde sich mir irgendwann anvertrauen." Es war zum verrückt werden, ich kannte Harrys Beweggründe schließlich genau, doch konnte keinen davon über meine Lippen dringen lassen, um nicht zu viel zu verraten.

Also tat ich das einzige, was mich aus dieser Situation retten konnte: Ich verdrehte die Wahrheit. „Schau dir Will doch mal an – er war schon früher immer der beliebtere Sohn und vermutlich wollte Harry nicht schon wieder mit ihm verglichen werden und hat dir deshalb nichts von seinem Bruder erzählt." Das hätte sogar stimmen können, schließlich war Will tatsächlich schon immer der Vorzeigesohn gewesen, doch ich glaubte nicht, dass Harry ihn deshalb nicht hier haben wollte. Es hatte ihm schon früher nichts ausgemacht, nicht der Liebling zu sein, im Gegenteil! Es war ihm sogar lieber auf diese Art, da er somit mehr Freiheiten gehabt hatte und nicht immer ganz so perfekt für die Außenwelt erscheinen musste.

„Du hast vermutlich recht.", meinte Mason und nahm endlich seinen Blick von den beiden Brüdern, die er vorher so stark fixiert hatte, dass man denken konnte, seine Augen würden irgendwann, wie in den Comics, nach vorne schnellen.

Und dann wechselte er auf einmal so plötzlich das Thema, dass ich für einen Moment sprachlos war: „Was läuft da eigentlich zwischen dir und Harry?"

„Nichts!", antwortete ich zwei Oktaven höher, nachdem ich die kurze Schockphase überwunden hatte und merkte selbst, wie unglaubwürdig ich klang. Also verbesserte ich mich schnell: „Da ist wirklich nichts.", sagte ich ruhig. „Wir sind nur gute Freunde geworden." Und das war die Wahrheit.

„Ich habe doch genau gesehen, wie ihr beiden Händchenhaltend rein gekommen seid! Außerdem verbindet euch immer so eine merkwürdige Aura, sobald ihr beide zusammen seid." Mason machte sich lächerlich mit seinen Vermutungen, schließlich waren Harry und ich nicht mehr als Freunde und außerdem hatte er irgendein komisches Spiel mit Mara am Laufen, in das ich definitiv nicht eintreten wollte.

„Bist du jetzt unter die Wahrsager gegangen?", fragte ich schmunzelnd und erntete einen Blick, der mir „ist das dein Ernst?!" zuzurufen schien und mich nur noch mehr in Fahrt brachte. „Vielleicht sollte ich dir mal diese Karten besorgen, damit du mir passend zu meiner Aura meine Zukunft vorhersagen kannst." Nun war es um mich geschehen und ich lachte so laut los, dass auch Will und Harry auf mich aufmerksam wurden.

„Man Lia, du bist unmöglich!", zischte Mason leise, doch ich sah genau, wie er sich versuchte das Schmunzeln zu verkneifen.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt