9 - Asphaltkuss

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Mein nächtliches Gespräch mit Harry schien keine weiteren Auswirkungen auf den weiteren Verlauf meiner Studienzeit zu haben, denn auf dem großen Campus liefen wir uns so gut wie nie über den Weg – und wenn ich ihn dann doch mal sah, verschwand ich dezent hinter einer Mauer, sodass ich ihn nicht in die Verlegenheit brachte, mich zu begrüßen.

An guten Tagen vernahm ich nicht einmal eine Spur von Harry Styles in meiner Umgebung und konnte ihn daher getrost in die unendlichen Tiefen meines Gehirns verbannen, sodass er nicht mehr in meinen ständigen Gedanken vorkam. Es war eine Verbannung, die ich schon einmal vor etwa genau sieben Jahren vollzogen hatte und damals schien es wunderbar funktioniert zu haben.

Das Klingeln meines alten Handys weckte mich aus meinem Tagtraum, während ich mich mal wieder hinter einer hohen Mauer versteckte, um dem Jungen mit den auffälligen Haaren zu entgehen. „Ja?", fragte ich und bemühte mich nicht zu laut zu sprechen. Schließlich konnte Harry immer noch, trotz sieben Jahren Funkstille, meine Gedanken erraten – wer weiß was für Superkräfte er noch im Laufe der Jahre entwickelt hatte. Ich wollte nicht das Risiko meiner Offenbarung eingehen, bloß weil der verdammte Typ ein Super-Gehör entwickelt hatte.

„Ich bin's", meinte Toni. Ihre helle Stimme erkannte ich sofort – in den letzten Tagen war sie zu der einzigen Person geworden, mit der ich regelmäßig sprach, da mich Jim dazu verdonnert hatte, meine Hand zu schonen, bis sie wieder vollkommen geheilt war.

„Kann ich dich später zurück rufen?", fragte ich verzweifelt, da der Rucksack – den ich inzwischen tatsächlich ausgeräumt hatte, damit mein Notizblock sowie alle nötigen Bücher für mein Studium darin Platz hatten – drohte, von meiner Schulter zu fallen, um die ich ihn eigentlich lässig gelegt hatte. Das Problem an der Sache war, dass ich zusätzlich ein paar Bücher aus der Bibliothek auf meinem Arm hatte und mit der anderen Hand das Telefon halten musste. Würde die wacklige Angelegenheit wahr machen und auf den Boden fallen, würde ich garantiert sämtliche Aufmerksamkeit und somit auch den Blick von Harry auf mich ziehen.

„Du solltest sofort ins Wohnheim kommen, ich muss dir was zeigen." Meine einzige Freundin war selten bestimmend, deswegen musste es ihr wirklich ernst sein. Während ich umständlich versuchte, über die Mauer zu schauen, um zu sehen, ob der Grund meiner undercover Aktion mittlerweile seinen Platz verlassen hat, fiel eines der Bücher aus meinen Armen und löste eine Kettenreaktion aus, deren Ergebnis es war, dass ich ebenfalls auf dem Asphalt landete.

„Scheiße!", fluchte ich ärgerlich und fragte mich, wie man nur so blöd sein konnte. Kaum hatte ich meine Brille wieder gerichtet, konnte ich erkennen, dass einige der umher stehenden Studenten – besonders die Mädchen – lachend auf mich zeigten und ich beschloss aus Protest nicht sofort wieder auf zu stehen. Sollten sie doch lachen, ich spielte gerne den Clown!

„Was ist passiert?", rief die hohe Stimme voller Panik aus dem Hörer, der ebenfalls auf dem Asphalt gelandet war. Zum Glück waren die alten Teile wesentlich standfester, als die heutigen Geräte, sodass ich bloß einen kleinen Kratzer auf meinem Handy zu verbüßen hatte.

„Alles gut, ich mache mich gleich auf den Weg.", erwiderte ich bitter und schaute zu der Gruppe, die mich noch immer anstarrten. War ihr eigenes Leben so langweilig?! Da ich mir diese Blöße definitiv nicht geben wollte, lächelte ich demonstrativ in ihre Richtung und hielt meinen Mittelfinger in die Höhe. Erschrocken wandten sich alle von mir ab. Na bitte, es ging doch!

„Hey Unbekannte, alles in Ordnung?" Die Stimme kam mir zwar bekannt vor, doch ich konnte sie niemanden zuordnen, deshalb stand ich erst auf, sammelte meine Bücher und meinen Rucksack ein, und drehte mich erst dann zu er Quelle um. Es war Mason.

„Klar, alles bestens.", gab ich resigniert zu und wollte mich auf den Weg in mein Wohnheim machen. Tonis Anruf und mein daraus resultierter Sturz sollte schließlich nicht umsonst gewesen sein.

Sehr zu meinem Leidwesen schien der blonde Junge mich zu mögen und fing an den Weg mit mir gemeinsam zu bestreiten. „Sah ja ziemlich übel aus.", kommentierte er meinen Sturz und sah mich dabei an. Na toll, er hatte den Clown also auch beim fallen beobachtet. „Was war da zwischen Harry und dir? Ich wollte schon früher zu dir gehen, aber er hat sich lieber aus dem Staub gemacht."

Nun war es an mir, ihn anzusehen. Verdammt, Harry ging mir auch aus dem Weg? Sehr zu meinem Leidwesen waren wir beide etwa gleich groß, sodass ich ihm direkt in seine hypnotisierenden grünen Augen blicken konnte.

Es dauerte einen Moment, bis ich mich von ihnen losreißen und zu einer Antwort ansetzen konnte: „Ich kenne ihn nicht wirklich." Es war nicht einmal gelogen, schließlich kannte ich den neuen Harry – der meinem Prinzen verdächtig ähnelte – gar nicht, es war unmöglich einen Menschen nach so einer langen Zeit der Funkstille zu kennen.

„Das sehe ich anders – er wird immer extrem komisch, wenn er dich sieht und du konntest am Samstagabend deine Blicke nicht von ihm nehmen." Wer war er – Sherlock Holmes?!

„Es geht dich nichts an."

„Er ist mein bester Freund, natürlich geht es mich was an, wenn einfach eine Unbekannte aufkreuzt und er nicht mit mir über sie sprechen will. Ich kenne alle Mädchen in seinem Leben, nie war ihm etwas peinlich, doch jetzt kommst du und er wird zum Gentleman der genießt und schweigt?" Offenbar lag ihm wirklich etwas an seinem Kumpel, doch das ging mich gar nichts an.

„Lia.", sagte ich schnell, bevor ich es mir anders überlegen konnte. In der Bar hatte ich ihm meinen Namen nicht verraten, da ich davon ausgegangen war, Harry würde sich nicht an mich erinnern – nun war die Ausgangssituation vollkommen anders.

„Was?", fragte Mason verwirrt und blieb stehen. Offenbar hatte er nicht mit einer solchen Information gerechnet.

Ich ging einfach weiter und drehte mich im Gehen um, um ihm zu antworten: „Mein Name. Damit bin ich nicht die Unbekannte mehr und du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen." Als ich es aussprach, merkte ich wie wenig Logik hinter meinen Worten steckte, dabei hatten sie in meinem Kopf wie das perfekte Argument geklungen.

Kopfschüttelnd versuchte ich dieses Gespräch ebenfalls aus meinen Gedanken zu verbannen und machte mich, ohne meinen Verfolger, auf den Weg zu Toni.


Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt