21 - Eine Chance?

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„Solltest du nicht deine Freundin verarzten und ihr Bein vor der Amputation retten?", fragte ich noch bevor ich mich zu ihm umdrehte. Ich war noch immer so sauer auf Mara, dass ich mir den letzten Hieb gegen sie nicht verkneifen konnte.

Meine Worte erzielten jedoch nicht den gewünschten Effekt, denn sie brachten Harry nicht zur Weißglut sondern zum Lächeln. „Ein Tritt unter dem Tisch – bist du nicht langsam aus dem Alter raus?", fragte er und lehnte sich lässig gegen die Mauer, die das einzige war, was mich noch zu Jims Bar trennte.

„Was willst du, Harry?", fragte ich genervt und verschränkte meine Hände vor der Brust. Ich wollte wirklich nicht mit ihm reden – erst recht nicht, wenn der gleiche Blick seine Augen schmückte, wie vorhin in der Pizzeria – doch trotzdem blieb ich stehen.

„Du kannst doch nicht einfach jemanden angreifen. Die komischen Leute bei euch am Esstisch sind anders, als andere Menschen. Damals hattest du ein Druckmittel – du warst die Tochter deines Vaters – doch hier bist du nur irgendein Mädchen, das sofort als aggressiv abgestempelt wird." Es war merkwürdig Harry anzusehen, schließlich wirkte er in diesem Moment wie mein bester Freund, doch das war er nicht. Es kostete mich eine unheimliche Überzeugungskraft, mein Gehirn von der Wahrheit zu überzeugen.

„Sehe ich so aus, als würde es mich interessieren, wenn mich jemand als aggressiv bezeichnet?", fragte ich und schaute neben Harry an die Mauer. Ich konnte meinen Blick einfach nicht auf ihm ruhen lassen, das war unmöglich. Dafür sah er mit seinen braunen Locken und den durchdringenden Augen einfach immer noch zu sehr nach meinem Prinzen aus.

Als Harry sich jedoch nicht einmal die Mühe machte, auf meine Worte zu antworten, fing ich an zu grübeln. Natürlich wollte ich nicht als aggressiv gelten und natürlich hätte ich die Situation anders als ein zehnjähriges verwöhntes Mädchen lösen können, doch trotzdem! „Sie hätte ja nicht so übertreiben müssen.", meinte ich daher resigniert. Wenn die Ökotusse einfach nur ihren Mund gehalten und – von mir aus – zurück getreten hätte, würde ich nicht einmal in diesem Dilemma stecken. Das war doch nicht meine Schuld.

Harry lachte: „Ich sagte doch, dass es hier anders läuft. Außerdem siehst du nun wirklich nicht mehr so aus, als würdest du dich noch immer wie ein verzogenes Gör aufführen."

„Du wirkst aber auch nicht mehr so, als würdest du dich noch mit einem verzogenem Gör abgeben.", erwiderte ich und schaffte es endlich seinen Blick kampfbereit zu erwidern. Nun fingen auch meine Mundwinkel ein wenig zu zucken an.

„Tja, ich kann dich doch nicht gänzlich auflaufen lassen, sonst bist du auch ohne deinen Vater bei allen unten durch, schließlich warst du mal Teil meiner Familie." Es war merkwürdig, ihn so offen mit mir sprechen zu hören. Normalerweise hätte ich nicht schnell genug von ihm wegkommen können, doch irgendwas hielt mich in diesem Moment.

„Das ist schon lange her.", meinte ich und dachte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, an unsere gemeinsamen Jahre zurück. Ich gehörte genauso zu seiner Familie, wie er zu meiner. Der Junge mit den braunen Locken, mein vermeintlicher Prinz, stand mir näher als meine Eltern – er war die Person der ich mich anvertraute, mit der ich jede Minute meiner freien Zeit verbrachte, der Junge, der mich komplett von sich abhängig gemacht hatte.

„Du hast dich ziemlich verändert, Thalia.", gestand er und ließ seinen Blick auf mir ruhen. Er sah mich ganz genau an. Es war kein Mustern, welches nach Fehlern an mir suchte, es war einfach nur ein beobachten, das ich ihm auf gleiche Weise zurück zahlte.

Harry war größer geworden, früher hatte ich ihn schließlich um fast einen halben Kopf überragen, doch heute war er ein kleines Stück größer als ich. Und dann waren da noch seine Tattoos, die dank seines schwarzen Shirts nicht mal annähernd verdeckt waren. Ich hatte in ihm nie wirklich einen Typen gesehen, der auf diese Badboy-Masche stand – vor allem nicht nach dem Studio-Vorfall – doch offenbar hatte sich seine Einstellung bezüglich der ewigen Körperkunst komplett geändert. War das etwa ein Anker auf seinem Handgelenk?

„Du aber auch, ich dachte nicht, dass du je wieder einen Fuß in ein Tattoostudio setzen würdest.", gab ich schmunzelnd zu und erntete dafür ein gespielt genervtes Stöhnen meines ehemaligen Freundes.

„Hey!", rief er empört, grinste jedoch dabei. „Du hast versprochen, dass du nie wieder ein Wort darüber verlieren würdest." Das stimmte zwar, jedoch haben wir wenige Jahre darauf gar nicht mehr miteinander gesprochen und das hatte all unsere Schwüre und Versprechen ziemlich nichtig gemacht. „Es hat ewig gedauert, bis ich mein Trauma überwunden hatte." Harry fasste sich theatralisch an die Brust und brachte damit auch den letzten Funken Vernunft zum erlöschen – ich prustete lauthals los.

„Harry!" Ernsthaft?! Der schöne Moment zwischen Harry und mir wurde rasch von dem Mädchen zerstört, das im Grunde schon an ihrem abgefallenen Bein verblutet sein musste. „Bist du endlich fertig? Ich möchte nicht alleine durch die Straßen hier laufen.", meinte die Ökotusse und humpelte langsam auf uns zu. Sie schien ihrer Scheinverletzung wirklich zu glauben - eines musste man Mara lassen: Sie konnte wirklich gut schauspielern.

„Sorry.", meinte Harry leise und wandte sich sofort zu seiner Freundin um. Ihr Verhalten schien ihm zwar nicht sonderlich zu gefallen, doch trotzdem machte er keine Anstalten sie zu stoppen.

„Tu dir keinen Zwang an.", sagte ich trocken und deutete ihm, dass er mich jetzt alleine lassen konnte. Auf einmal kam ich mir lächerlich vor – wie hatte ich auch nur für einen Augenblick glauben können, dass doch noch ein Stück unserer Freundschaft überlebt haben könnte?

Resigniert machte ich mich auf den Weg mein eigentliches Ziel weiter zu verfolgen und drehte den beiden meine Rücken zu. Warum hatte ich es nur so genossen, mit Harry zu reden? Warum hatte ich mich nur der Illusion meines Prinzen hingegeben?

„Was machst du hier?", fragte mich Jim, noch bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. „Hast du vergessen, dass heute alles wegen den Renovierungen geschlossen bleibt?" Das hatte ich tatsächlich vergessen, doch das war mir ziemlich egal. Es wurde schließlich nur der hintere Teil der Bar, also die Küche sowie die Kühlkamme erneuert, sodass man im Hauptbereich nichts davon mitbekam.

„Umso besser – hast du Lust, was zu trinken?", fragte ich, ging jedoch schon selbstverständlich alleine hinter die Bar. Jim war in den letzten Wochen zu einem wirklich guten Freund von mir geworden, daher machte ich mir gar keine Sorgen um mein Verhalten, er würde mich schon nicht als unfreundlich ansehen.

„Du brauchst es offenbar ziemlich dringen. Mach mir auch mal eins.", meinte er und setzte sich auf einen der Hocker vor der Bar. Ich zapfte uns konzentriert zwei Gläser Bier ab und nahm dann neben meinem Chef Platz.

„Du glaubst ja gar nicht, was ich für einen verwirrenden Abend hinter mir habe.", meinte ich vielsagend und nahm daraufhin einen großen Schluck meines Getränks. Vielleicht würde ein bisschen Wärme in meinem Magen meine Laune wieder steigern können. 

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt