70 - Flucht

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„Vielleicht sollte ich dich langsam wieder nach Hause bringen.", sagte ich vorsichtig, als ich einen Blick auf die Uhr warf. Wir waren inzwischen schon eine ganze Stunde weg und ich befürchtete langsam, dass mich Lenis Eltern umbringen würden, wenn ich sie noch weiter von ihnen fern hielt. Ich wollte gar nicht erst daran denken, wie einfach es für Jim sein würde, mich knallhart zu feuern, wenn ich irgendetwas tat, mit dem er nicht einverstanden war.

„Bitte nicht, ich will noch nicht zurück!", flehte Leni jedoch sofort. Ihre großen blauen Kulleraugen schauten mich dabei so durchdringend an, dass ich gar nicht anders konnte, als ihr den Gefallen zu tun. Was sollte ich auch anderes machen?!

„Na gut", lenkte ich resigniert ein und hielt der Kleinen meine Hand hin, die sie auch sofort ergriff. „Dann besuchen wir jetzt einen Freund von mir." Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wohin ich sonst gehen konnte. Draußen war es inzwischen zu kalt, um die ganze Zeit an der frischen Luft zu bleiben und in mein Wohnheim traute ich mich ehrlich gesagt nicht. Zu Jim wollte Leni noch nicht zurück, also blieb nur noch Harry, der hoffentlich inzwischen alle seine Vorlesungen hinter sich gebracht und seine eigene Wohnung aufgesucht hatte.

„Ist er nett?", fragte Leni sofort und schien unser kleines Abenteuer sichtlich zu genießen. Ich fragte mich unweigerlich, wie lange sie den Streit ihrer Eltern schon mit angehört haben musste, ehe ich dazu gekommen war.

„Harry ist toll, du wirst ihn mögen.", gab ich ehrlich zu und schenkte dem Mädchen ein Lächeln, das sie sofort erwiderte. „Er ist so etwas wie ein Prinz für mich.", gestand ich schmunzelnd und dachte unweigerlich an den Jungen, mit dem ich nach all den Jahren tatsächlich zusammen gekommen war. All meine Sorgen verschwanden, sobald ich ihn in den Vordergrund meiner Gedanken lenkte.

Lenis Augen wurden groß: „Dann bist du seine Prinzessin?", fragte sie und ich wusste ganz genau, welcher Zauber sich vor ihren Augen abspielte. Genau das gleiche empfand ich schon mein ganzes Leben, sobald ich an die Geschichten zurück dachte, die ich schon als kleines Kind geliebt hatte. Prinzen, Prinzessinnen, Königreiche – alles was das Herz begehrte.


„Er sieht aber gar nicht aus wie ein Prinz.", sagte Leni und meinte wohl, dass sie mir diese Auffassung diskret mitteilte, jedoch verließen ihre Worte laut genug ihren Mund, damit Harry sie ebenfalls hören konnte. Ich erkannte aus dem Augenwinkel, wie sich seine Mundwinkel in die Höhe zogen.

„Das hat er aber mal.", antwortete ich grinsend und verlor mich dabei in der Erinnerung an meinen Prinzen, mit dem ich gemeinsam aufgewachsen war. „Doch jetzt hält er seinen Prinzen eher versteckt."

Leni grinste ein wenig und wandte sich dann wieder zu meinem Freund um, den sie scheinbar sehr gerne mochte. Schon seit unserer Ankunft musste sie jedes Mal grinsen, wenn sie ihn ansah - sie mochte meinen Prinzen scheinbar sehr gerne.

„Hast du was dagegen, ein bisschen fern zu sehen?", fragte Harry, nachdem wieder Ruhe zwischen uns eingekehrt war. „Ich muss noch was mit meiner Prinzessin besprechen.", er signalisierte dem kleinen Mädchen dabei zwar ein schelmisches Grinsen, doch ich konnte ahnen, dass die Sache, über die er mit mir sprechen wollte, eigentlich gar nicht so positiv sein würde.

Die Kleine war zwar sofort begeistert von der Idee und folgte Harry ins Wohnzimmer, doch ich dagegen hoffte inständig auf einen spontanen Stromausfall, der uns alle zwang, gemeinsam vor einer Kerze zu hocken und niemanden alleine zu lassen. Ich wollte nicht mit meinem Freund reden, wollte nicht über meinen Vater sprechen, wollte nicht aufarbeiten müssen, warum ich mich jetzt nicht mehr in mein eigenes Wohnheim traute.

„Worüber willst du reden?", fragte ich jedoch trotzdem ahnungslos und bemühte mich einen unbekümmerten Eindruck zu hinterlassen.

„Du bringst tatsächlich lieber ein Kind mit hier her, als über deinen Vater zu reden?!", fragte Harry und hatte deutlich Mühe seine Stimme gesenkt zu halten. Wenn er jetzt anfing lauter zu werden, würden wir nicht besser als Jim und Anna sein. Das konnte er doch nicht wirklich wollen.

„Das war nicht geplant", verteidigte ich meine Intentionen leise und sah dem Lockenkopf dabei tief in die Augen, damit er mir glaubte. „Jim und Anna haben sich um Leni gestritten und sie musste jedes Wort mit anhören. Ich bin einfach in Panik geraten und war wütend genug, sie einfach mitzunehmen – was hätte ich denn tun sollen?"

„Aber hattest du nicht vielleicht andere Sorgen?" Er deutete damit auf meinen Vater an, den ich seit unserer Begegnung immer wieder strikt aus meinen Gedanken gestrichen hatte. „Was wolltest du überhaupt bei Jim?"

Ich war zwar unheimlich dankbar, dass Harry sich inzwischen wieder beruhigt und ein bisschen eingelenkt hatte, doch wieso stellte er mir diese Fragen? Ich hätte Leni doch nicht als Ausrede missbraucht, um von meinem eigenen Problem abzulenken! So etwas würde ich doch niemals machen, oder?

Ohne weiter zu zögern, beschloss ich, dass nur noch die Wahrheit über meine Lippen fließen sollte. Es würde nichts bringen, mich immer tiefer in Lügen zu verstricke, wenn ich sowieso schon so viele Dinge hatte, über die ich mir Sorgen machen musste. „Ich brauchte jemanden zum Reden, doch als ich ankam war Jim anderweitig beschäftigt." Ich wurde noch immer sauer, wenn ich daran dachte, wie verantwortungslos er sich seiner kleinen Tochter gegenüber benommen hatte.

„Und da kommst du nicht zu mir?" Er klang eindeutig verletzt und ich konnte es ihm nicht verübeln. „Wer sollte dich denn besser verstehen, als ich?" Warum hatte ich nicht als erstes an ihn, sondern an Jim gedacht?

„Ich weiß auch nicht", gestand ich ehrlich und fuchtelte mit meinen Armen in der Luft herum, als könnte ich somit nach einer gescheiten Antwort greifen. „Ich wollte halt einfach nur noch weg von der Uni." Es war eine schwache Erklärung, doch wenn ich bei der Wahrheit bleiben wollte, konnte ich ihm keine bessere liefern.

Als Harry, der Junge mit den wunderschönen Augen, näher auf mich zuging und mir ein kurzes, aber aufmunterndes Lächeln schenkte, wusste ich, dass er mir glaubte. Er schritt langsam näher und zog mich mit einem Arm an sich heran. „Wie geht es dir?", fragte er, während er mich innig an sich drückte.

Ich schloss meine Augen und wusste ab diesem Augenblick, dass der Junge, der mich in dieser Sekunde fest im Arm hielt, der Junge war, den ich für immer an meiner Seite wissen wollte. 

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt