41 - Familienprobleme

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Auf dem Weg zur Bar von Jim lief ich alleine an einem kleinen Park vorbei, der normalerweise voller Studenten war. Wir befanden uns hier schließlich noch immer im Radius des Campus und selten verirrte sich mal jemand auf das Gelände, ohne dass er hierzu gehörte, doch heute am frühen Abend entdeckte ich eine kleine Familie auf dem Rasen. Sie haben ein Picknick ausgebreitet und unterhielten sich gerade angeregt.
Ich konnte leider nicht verstehen, über was sie genau sprachen, doch eines erkannte ich genau: Das kleine Mädchen hing förmlich an den Lippen ihres Vaters. Sie hörte ihm mit großen Augen zu, ihr Kopf mit den niedlichen geflochtenen Zöpfen war nach hinten gelegt, sodass sie seinen Blick erwidern konnte.

Ich musste lächeln, schließlich sah die kleine Familie dabei so süß aus, dass ich sie am liebsten sofort in ein Bilderbuch gepackt hätte. Unweigerlich stellte ich den Bezug zu mir und meiner Familie her und dachte traurig daran, dass ich meinem Vater auch mal so gebannt zugehört hatte – er hätte sich zwar niemals mit mir auf den Boden gesetzt und dann auch noch mitgebrachte Sandwiches gegessen, doch ansonsten sah unsere Verbindung ähnlich aus. Doch irgendwann hatte ich angefangen seine Ansichten zu hinterfragen, hatte seinen Worten nicht mehr so gebannt zugehört, hatte eine eigene Meinung entwickelt, die nicht mit seiner übereinstimmte, hatte herausgefunden, was für ein grausamer Mensch mein Vater tatsächlich war. Ob der Mann auf der Wiese auch ein schlechter Mensch war? Ob das Mädchen ihn nur so sehr vergötterte, weil sie es nicht anders kannte und nicht besser wusste?

Ich schüttelte schnell den Kopf – warum machte ich mir überhaupt um so etwas Gedanken? Also beschleunigte ich mein Tempo bewusst und ließ die kleine idyllische Familie hinter mir, sodass sie aus meinem Kopf verschwanden. Die Bar erreichte ich nur einen Augenblick später.

Mit den Worten: „Du musst heute Kellnern.", begrüßte mich Jim und klopfte mir aufmunternd auf die Schultern.

„Womit habe ich das nur verdient?", fragte ich theatralisch und dachte mir innerlich, dass mein Karma dafür zurück schlug, weil ich gestern Abend viel zu viel Alkohol getrunken hatte und mein Körper schon relativ früh den üblen Kater losgeworden war.

„Anna ist ein paar Tage zu ihrer Mutter gefahren und auf die Schnelle habe ich keinen Ersatz auftreiben können." Die Art, wie Jim das sagte, machte mich stutzig. Er wirkte dabei so beleidigt, dass ich mich ernsthaft fragte, ob die beiden sich gestritten haben. Das würde auch erklären, weshalb sie mich beim letzten Mal so komisch gemustert hatte – wenn es in ihrer Beziehung nicht gerade rosig aussah, blieb es nicht aus, eifersüchtig zu sein.

„Ist alles okay bei euch?", fragte ich vorsichtig, auch wenn ich wusste, dass der Barkeeper seine Gefühle lieber für sich behielt.

„Klar.", antwortete er knapp und wand sich wieder seiner Bar zu. Ich dagegen ging wortlos in den hinteren Raum und schnappte mir eine Schürze. Meine Haare band ich wieder einmal zu einem Pferdeschwanz und dank meines T-Shirts konnte ich im Spiegel meine nackten, blassen Arme bewundern. Ich hatte definitiv keine Ähnlichkeit mit Schneewittchen, doch zumindest war meine Haut so weiß wie Schnee – jetzt würde ich nur noch rote blutähnliche Lippen und schwarzes Haar, das an Ebenholz erinnerte, benötigen und man könnte mich glatt für ihre eineiige Zwillingsschwester halten. Damals hat mich Harry oft wegen der Blässe ausgelacht, schließlich brauchte er nur mal kurz in die Sonne gehen und war sofort schön gebräunt, während ich einen schmerzenden Sonnenbrand davon trug, doch dank Schneewittchen war ich ihm nie komplett unterlegen.

Und jetzt erkannte ich, dass ich damit durch war, eine Prinzessin verkörpern zu wollen – ich wollte keine wallenden Kleider mehr, würde selbst mein Königreich ausschlagen, nur um mich endlich selbst zu verkörpern. Während ich meinen nackten Arm im Spiegel betrachtete, fasste ich einen Entschluss, den ich schon gegenüber Harry angedeutet hatte: Ich wollte ein Tattoo und musste mich nur noch entscheiden, was genau darauf zu sehen sein sollte.

Als ich wieder nach draußen ging, merkte ich, dass Jim die Bar noch immer nicht geöffnet hatte. „Du kannst wirklich mit mir reden, wenn dich etwas bedrückt.", meinte ich vorsichtig und stellte mich neben Jim hinter den Tresen – wenn eh keine Gäste hier waren, brauchte ich meinen geliebten Platz auch nicht zu verlassen.

„Es ist einfach im Moment... viel.", gab er nach kurzem Zögern zu, was mich nur noch mehr verwunderte. Normalerweise lebte Jim für seine Arbeit und wollte immer, dass alles perfekt war, doch heute schien er völlig von der Reihe zu sein.

„Was ist denn los?", fragte ich leise und lehnte mich nun ebenfalls so auf die Platte, dass unsere Köpfe auf gleicher Höhe waren und ich ihn, in dem ich mein Gesicht zu meinem Nachbarn drehte, direkt ansehen konnte. Wenn mein Chef, der noch nicht einmal dreißig Jahre alt war, ein Geschäft besaß, welches inzwischen so gut lief, dass er kaum noch etwas investieren musste, nicht gerade und mit erhobenem Hauptes in seinem Laden stand, dann lief definitiv etwas falsch.

„Anna wollte eine Pause und hat einfach Leni mit zu ihrer Mutter genommen.", meinte Jim nachdem er sich sehr lange überlegt hatte, ob er sein Leben mit mir teilen sollte. Doch wer war Leni?

Scheinbar bemerkte mein Freund meinen fragenden Blick und seufzte leise, ehe er zu einer Antwort ansetzte: „Leni ist meine Tochter.", erklärte er gelassen, während sich in mir die Gedanken überschlugen. Jim und Anna hatten eine Tochter?! Wie war es möglich, dass ich nun schon so lange hier arbeitete und das immer noch nicht wusste? Jim war noch viel verschwiegener, als ich es mir vorgestellt hatte.

Ich brauchte einen Moment, ehe ich bereit war, einen klaren und hilfreichen Gedanken zu fassen: „Und Anna hat sie einfach so mitgenommen? Wie lange werden sie weg sein?", fragte ich und klang dabei vermutlich wie ein naives Kind, doch diese Situation war so abstrakt, dass ich nicht anders konnte.

„Das weiß keiner – zwischen uns läuft es schon länger nicht gut, doch so etwas hätte ich ihr nicht zugetraut." Jim stellte sich wieder gerade hin. „Aber das ist nicht so wichtig – wir sollten langsam mal öffnen.", kommandierte er und schien seine besorgten Gedanken einfach in Luft aufgelöst zu haben. Wie oft ging es ihm schlecht, während er seine Laune so gut mit einem Lächeln überspielte, dass es niemand bemerkte?

„Bist du sicher, dass es die gut geht?", fragte ich noch einmal, um mich zu vergewissern, doch Jim antwortete nicht. Er ließ mich einfach hinter der Bar stehen und schlenderte, als wäre nichts gewesen, zur Eingangstür, um diese zu öffnen. Der Mann war noch viel verstrickter, als ich gedacht hatte.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt