25 - Der Entschluss

1.2K 85 5
                                    

„Woher kennst du Harry?", fragte mich Toni als wir uns am nächsten Tag gemeinsam zu unserer ersten Vorlesung begaben. Als ich am Abend endlich wieder in unser Zimmer getreten war, hatte sie schon tief und fest geschlafen, sodass es zu keiner Aussprache zwischen uns kommen konnte. Doch zu meiner Erleichterung hatte meine Freundin doch nicht den Entschluss gefasst, mich gänzlich zu meiden, sodass es ihre Idee war, gemeinsam zur Vorlesung zu laufen.

Ich hatte die halbe Nacht wach gelegen und über Harrys eigentliches Vorhaben nachgegrübelt, welches ihn zu mir geführt hatte. Er würde genauso unter meinem Vater leiden, wie alle anderen Studenten denen die Uni auch nur halb so viel bedeuten würde wie Toni – wie konnte ich so etwas zulassen? Daher hatte ich einen Entschluss gefällt, den ich immer noch als vollkommen verrückt ansah: Ich musste mit meinem Vater persönlich sprechen.

Daher hatte ich heute Morgen extra lang geduscht und versucht, so normal wie möglich auszusehen. Ich hatte eine einfache weiße Bluse in meinen Rucksack gesteckt, sowie das notwendige Make-Up um meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich doch kein verwahrloster Obdachloser war, sondern mich auch mit wenig Finanzmitteln über Wasser halten konnte. Ich brauchte ihnen ja nicht die ganze Wahrheit erzählen, musste ja nicht erwähnen, dass ich mir nicht einmal mehr neue Schuhe aus dem Discounter leisten konnte, ich musste sie einfach nur beruhigen.

Harry hatte mir mit seinen Worten – wenn auch erst im Nachhinein – die Augen geöffnet. Ganz egal, wie viel Streit mein Vater und ich in den letzten Jahren hatten, wie viel Meinungsverschiedenheiten die Ursache zu unserer jetzigen Beziehung waren, nichts änderte die Tatsache, dass er vor vielen Jahren der wichtigste Mensch in meinem Leben war und ich ihm daher immer noch irgendetwas bedeuten musste. Eine solche Bindung konnte nicht verjähren.

Mein Plan hatte bloß einen kleinen Haken – ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich einhundert Kilometer überbrücken sollte. Ich hatte zwar einen Führerschein, jedoch kein Auto und für ein Zugticket fehlte mir das Geld – mal abgesehen davon, dass ich keine Ahnung hatte, wie man öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Als ich abgehauen war, hatte ich zwar einen Bus nehmen müssen, doch einen solchen Kulturschock wollte ich mir eigentlich ersparen. Der ekelhafte Geruch des Mannes neben mir, schien sich auch noch Tage danach in meinen Nasenhöhlen Festgesetz zu haben.

„Wir beide kannten uns vor einer langen Zeit.", antwortete ich Toni schwammig. Ich wollte weder über Harry sprechen, noch mir eingestehen, dass dieser die einzige Person war, die mir helfen konnte. Schließlich zweifelte ich daran, dass Jim mich genug verstand, um solche Umstände auf sich zu nehmen.

„Also habt ihr eure Kindheit zusammen verbracht?" Ich nickte. „Wart ihr damals Freunde?" Wieder nickte ich – es hatte keinen Sinn, eine solch belanglose Information zu verschweigen. Außerdem hatte ich andere Sorgen in diesem Augenblick – ich wusste noch immer nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich endlich Harry entdeckte.

Meine Augen suchten die Menge der Studenten ab, die sich an diesem sonnigen Morgen mal wieder auf der Wiese tummelten, doch nirgendwo erkannte ich das markante Gesicht, welches mich sonst zu verfolgen schien. Verdammt, was machte ich, wenn er heute mal zuhause blieb, wenn er krank war oder wenn Harry mir nach unserer Vertrautheit aus dem Weg ging?

„Ist alles okay bei dir?", fragte Toni und vermutlich wäre es vernünftig ihr alles zu erklären, doch wie sollte ich das anstellen, ohne die Information meines Vaters auszuplaudern?

Ich wollte ihr gerade antworten, als mir Masons blonde Haare auffielen – wo er war, konnte Harry nicht weit sein. Die Beiden schienen unzertrennlich zu sein. „Hey Saufkumpel!", rief ich quer über die Wiese und erntete dafür ein paar merkwürdige Blicke – aber das war mir egal, schließlich war mir nun die Aufmerksamkeit des Jungen sicher.

„Was gibt's?", fragte er, nachdem er kurz zu uns joggte. Ich blickte zu Toni, die offenbar noch immer mit den Blicken zu kämpfen hatte, die neugierig auf uns lagen, denn sie versteckte ihre Hände in den Ärmeln ihrer dünnen Jacke.

„Wo hast du Harry gelassen?" Ich hatte weder seine Nummer, noch eine Adresse, daher blieb mir gar nichts anderes übrig, als seinen besten Freund zu fragen.

„Wieso willst du das wissen? Was lief da zwischen euch?", offenbar war die Freundschaft der beiden Jungs lange nicht so tief, wie ich gedacht hatte, denn Harry schien den Jungen mit den hypnotisierend grünen Augen nicht in seine Vergangenheit eingeweiht zu haben.

„Sie waren damals Freunde – aber mehr hat mir Lia auch nicht verraten.", antwortete Toni für mich und lachte, um die Nervosität wegen der ganzen Blicke auf ihr zu verbergen.

„Aber dann hattet ihr was miteinander und eure Freundschaft ging kaputt!", schlussfolgerte Mason und schien sich zahlreichen Klischees zu bedienen – leider war die ganze Sache nicht ganz so leicht zu erklären und hatte viel mit der Politik zwischen unseren Eltern zu tun, die definitiv kaum ein Außenstehender nachvollziehen konnte.

„Sag mir einfach wo er ist.", forderte ich daher und atmete erleichtert aus, als mir Mason sein Smartphone reichte.

„Ruf ihn an. Er wollte sich einen Kaffee holen, aber jetzt weiß ich nicht so genau wo er ist." Am liebsten hätte ich den Jungen vor mir umarmt, jedoch befand sich immer noch die Frage in meinem Hinterkopf, ob ich das ganze wirklich durchziehen würde und bändigte meine Freude enorm.

Ich griff das Handy und stellte fest wie schön es war, endlich wieder ein normales Smartphone in der Hand zu halten. Ich konnte ganz einfach mit meinem Finger auf das Glas tippen und schon führte es meine Anweisungen aus – mein Steinzeithandy piepte noch immer bei jeder Taste die ich berührte, um durch das Menü zu fahren. Am liebsten wäre ich mit dem Teil in meiner Hand weggerannt, doch das konnte ich natürlich nicht tun – mal abgesehen davon, war Mason sicherlich schneller als ich, da meine letzte sportliche Einheit schon über einen Monat zurück lag.

Ich wählte mit pochendem Herzen Harrys Kontakt und machte ein paar Schritte von meinen Freunden weg – sie brauchten nicht zu hören, was genau ich nun vorhatte. „Hast du verlustängste, oder warum rufst du mich an?", hörte ich Harrys Stimme fragen und konnte mir ein kleines schmunzeln nicht verkneifen.

„Ich bin's.", sagte ich wenig einfallsreich, doch zu meinem Erleichtern schien er meine Stimme sofort zu erkennen.

„Woher hast du Masons Handy?"

„Von kleinen Elfen die ihm das weggenommen haben.", erklärte ich kurz sarkastisch. Was war das denn auch für eine Frage?!

„Ach halt die Klappe – was willst du?" Noch immer schmunzelte ich, schließlich hatte Harry mir gerade indirekt recht gegeben, dass seine Frage unnötig gewesen war.

„Wo bist du gerade? Ich muss dich um einen gefallen bitten."

„Und das kannst du nicht am Telefon fragen?"

„Nein." Ich hörte wie die raue Stimme meines ehemaligen Prinzen ergeben seufzte.

„Okay, aber ich darf meine Vorlesung gleich nicht verpassen." Er nannte mir genau in welchem Raum sie sich befand und beschloss, dass ich ihn danach sehen könnte – jedoch wollte ich nicht so lange warten, um meinen Mut nicht zu verlieren.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt