61 - Spaziergang

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„Was findest du heiß?", fragte Harry belustigt, als ich mich endlich dazu entschlossen hatte, mich zu ihm zu setzen. Toni musste sowieso in Ruhe lernen und ich brauchte eine Möglichkeit, um meine peinlichen Worte zu revidieren.

„Mein neuer Professor sieht aus wie Prince Charming.", erklärte ich ihm kurz und verschwieg bewusst, dass der Typ locker dreimal so alt war wie ich und daher eher als der Großvater meines Kindheitsschwarms durchgehen könnte und somit alles andere als ansprechend für mich war.

„Ach, ist das so?", fragte Harry lachend und sah mich schmunzelnd an. „Dann hatte deine Aussage also rein gar nichts mit mir zu tun?" Er wusste es doch ganz genau, trotzdem setzte mein Prinz alles daran, die Bestätigung aus meinem Mund zu hören. Darauf würde er jedoch ziemlich lange warten können.

„Wie kommst du nur darauf? Sorry, aber mit Prince Charming konntest du noch nie mithalten." Und ob er das konnte, er war schon damals mein echter, mein realer Prinz gewesen.

„Das ist wirklich tragisch." Inzwischen hatte der Lockenkopf sein Buch komplett zugeklappt und nutzte seine Zeit damit, mich anzusehen. „Ich denke, wir sollten hier verschwinden.", sagte er entschieden und stand auf.

Als Harry seine große Hand in meine Richtung streckte, ergriff ich sie vollkommen reflexartig, ohne überhaupt darüber nachzudenken. So weit war es anscheinend schon gekommen. „Wo gehen wir hin?", fragte ich trotzdem und bemühte mich, nicht allzu abgelenkt von unseren verschlungen Fingern zu sein.

„Keine Ahnung, ich dachte wir laufen einfach ein bisschen rum." Ich war vollkommen einverstanden damit, einfach nur herum zu laufen, schließlich bedeutete das, dass ich in der Nähe von meinem Prinzen sein konnte, der mir in letzter Zeit ziemlich den Kopf verdrehte.

„Du verzichtest extra für mich auf deinen Medizinkram? Es muss wirklich schlimm um dich stehen." Ich lachte und versuchte mit dem kleinen Scherz meine Nerven wieder zu beruhigen, die noch immer dank unserer Hände außer Kontrolle geraten waren.

„Das tut es in der Tat.", bestätigte mir Harry und betonte dabei seine Stimme so unnatürlich, wie es Nanny Nummer vier immer getan hat. Ich konnte nicht anders, ich prustete los. Es war mir egal, wie schlimm oder verrückt ich dabei aussehen musste, das würde Harry jetzt aushalten müssen. Aber da er nun ebenfalls eingestiegen war und seine Grübchen zum Vorschein kamen, würde er es vermutlich nicht einmal bemerken.
„Kann Harry heute mit uns essen?", fragte ich Nanny Nummer vier, die gerade am Herd stand und etwas für uns beide zubereitete. Sie war noch nicht lange da, doch meine Mutter fand sie schon jetzt toll, da sie immer so streng war.

„Er wird doch sicherlich mit seinen eigenen Eltern essen, ganz genau so, wie es kultivierte Leute tun." Kultiviert, dieses Wort benutzte sie liebend gerne und versuchte mir damit nun schon seit zwei Wochen die Welt zu erklären. Sie sagte immer, dass es nur kultivierte Menschen weit im Leben bringen würde, doch ich dachte mir dann immer, dass sie sich damit quasi selber beleidigte, denn als Nanny hatte sie es nicht wirklich weit gebracht.

„Die sind auf irgendso'ner Feier, er muss sonst hungern.", sagte ich und verstellte meine Stimme so, dass sie eigentlich Mitleid bei anderen Leuten erzeugen sollte, doch Nanny Nummer vier war unfähig derartige Gefühle zu entwickeln.

„Sprich gefälligst wie ein kultivierter Mensch und verschlucke deine Worte nicht so.", herrschte sie mich bestimmend an und deutete mir, ihr beim Tischdecken zu helfen. Ihre Vorgängerinnen haben mich nie zur Hausarbeit gezwungen, sie hatten zu viel Angst vor dem Einfluss meines Vaters, doch für Nanny Nummer vier schien auch Angst ein fremdes Gefühl zu sein. Ich war nicht zum Arbeiten gemacht, wollte lieber am Tisch sitzen bleiben und mein Essen serviert bekommen – genauso wie es immer war – doch als ich entdeckte, dass sie insgesamt drei Teller aus dem Schrank holte und meinem besten Freund somit indirekt erlaubte, mit uns zu essen, erfüllte ich ihre Forderungen wortlos.

„Ich kann nicht glauben, dass du dich noch an sie erinnerst.", gestand ich verblüfft, nachdem wir uns beide wieder beruhigte hatten. Harry hatte eine Parkbank angesteuert, auf der wir uns in diesem Moment nieder ließen. Es war zwar ziemlich kühl, doch dank meines neuen Pullovers konnte ich mich nicht beklagen – immerhin hatte ich von gestern Nacht keine Erkältung davon gezogen. Mein Immunsystem musste also unzerstörbar sein.

Nachdem Harry mir nur mit einem Nicken geantwortet und ich mich gedanklich auf meine nächste Frage vorbereitet hatte, setzte ich mich aufrechter hin und ließ seine Hand langsam los. „Denkst du eigentlich, dass wir jetzt zusammen sind?", fragte ich und ließ es viel schroffer klingen, als es beabsichtigt war. Eigentlich hatte ich ihn nicht vor den Kopf stoßen wollen, doch diese Frage geisterte mir schon seit seinem Abschiedskuss am gestrigen Abend im Kopf herum. Ich wollte keine feste Beziehung führen, doch gleichzeitig wollte ich auch nicht, dass unsere Verbindung unterbrochen wurde. Ich war unsicher und das brachte ich ausgerechnet auf diese Weise zum Vorschein.

Glücklicherweise konnte Harry schon immer mit meinen Macken umgehen und reagierte vollkommen gelassen auf meine fast schon panische Frage, indem er mal wieder anfing zu lächeln. „Keine Sorge, ich habe schon verstanden, dass du im Moment nicht der Beziehungs-Typ bist."

„Und was war das dann gestern Abend?" Alles in mir schrie danach, endlich wieder ein Belangloses Thema anzusprechen, doch diese Dinge mussten geklärt werden, wenn ich heute Nacht ruhig schlafen wollte.

„Was meinst du? Ich küsse dich einfach gerne." Ich dankte Harry innerlich für seine Gelassenheit – es war so viel einfacher über solche Dinge zu sprechen, wenn keine der Parteien sie zu ernst nahmen. Um seine Worte zu verstärken lehnte sich Harry schmunzelnd zu mir herüber und legte seine Lippen ganz sanft und nur ganz kurz auf meine. Die Sekunde reichte jedoch trotzdem, um meine Augen zum Schließen zu bringen – selbst diese kaum merkbare Berührung fühlte sich atemberaubend an.

„Na dann ist ja gut.", flüsterte ich und wusste, dass nun ich an der Reihe war. Ich wollte ihn erneut spüren, wollte seine weichen Lippen ertasten können, also ergriff ich die Initiative und revanchiere mich für den viel zu kurzen Kuss.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt