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Sofia saß barfuß auf einem Steg, der sich weit in den See hinein erstreckte. Ihre Schuhe und Socken neben sich auf dem Holzsteg. Die Sonne blendete sie etwas, da sie sich im Wasser spiegelte, doch es störte sie kaum. Sie schloss einfach die Augen und ließ die Abendsonne ihr Gesicht wärmen. Das Mädchen versuchte sich etwas zu entspannen, doch die Erinnerungen an den Streit, der sie hierher hat fliehen lassen, ließen sie nicht in Ruhe. Immer wieder, wenn sie der Meinung war, dass sie ihre Gedanken genug kontrollieren konnte, um zu verhindern, dass sie daran dachte, kam die Erinnerung wieder bei ihr an. Wie ein verdammter Bumerang. Egal, wie weit man ihn weg wirft, er findet immer wieder einen Weg zurück.
Sie seufze genervt. Ihr Eltern wollten wegziehen. Nicht eine Straße weiter, oder ans andere Ende der Stadt, nein. Sie wollten in eine Kleinstadt ziehen, die mehrere Stunden Autofahrt entfernt lag.
Bald waren die Sommerferien vorbei und es würde ihr letztes Jahr an der Highschool beginnen.
Seit Wochen ging es so, dass sie nur noch stritten. Sie war wütend auf sie deswegen, denn es gab keinen Grund für diesen unnützen Umzug. Weder eine Aussicht auf einen besser bezahlten Job, noch eine Versetzung oder sonst etwas. Sie wollten einfach nur etwas neues, wie sie ihr erklärt hatten. Einfach nur etwas neues, war das zu glauben?
Es war zum Haare ausreißen. Sofia wollte hier nicht weg. Sie war hier aufgewachsen, hatte ihre Familie hier – sowohl die, die ihr Blut bestimmte, als auch die, die sie sich selbst ausgesucht hatte.
Völlig in ihren Gedanken versunken, ließ sie ihren großen Zeh Kreise im Wasser malen und veranlasste den See dazu, winzige Wellen von ihrem Fuß ausgehend, über die Wasseroberfläche gleiten zu lassen.
  Leise Schritte erklangen hinter ihr, doch sie erschrak nicht. Sie spürte, wer es war.
Jessi, ihre beste Freundin. Die beiden kannten sich, seit sie auf der Welt waren, denn sie wurden am gleichen Tag geboren. Und sie hatten eine engere Bindung zu einander, als manche Geschwister sie jemals haben werden.
Es war seltsam, es wusste auch niemand außer ihnen beiden davon. Doch für Sofia war es ganz normal zu wissen wie es Jessi geht, ohne sie fragen zu müssen, weil es wie ein Echo der eigenen Gefühle in ihr widerhallte, oder zu wissen, wo sie sich befand, als hätte sie einen GPS-Sender unter der Haut.
Sie kannten es nicht anders und hielten deshalb die Leute für seltsam, die nicht einmal wusste, wie es ihrer besten Freundin ging ohne sie erst darauf ansprechen zu müssen.
Sofia hätte fast gegrinst, als sie daran dachte, dass Jess einmal versucht hatte es zu erklären. Sie konnte eines nachts nicht schlafen und landete auf einem seltsamen Astrologiekanal. Laut ihr hinge des wohl mit der Konstellation der Sterne des Tages zusammen, an dem die beiden geboren wurden.
Jessis Mutter starb bei ihrer Geburt und ihren Vater kannte niemand. Sie wuchs bei ihrer Tante auf. Judith hatte weder einen Mann, noch Kinder und liebte Jess, als wäre sie ihr eigenes. Es gab Fälle in denen Familienmitglieder den Kindern die Schuld an einem Tod während der Geburt gaben, doch das hier war keiner dieser Fälle.
Jessi kam näher, sagte jedoch nichts als sie das sitzende Mädchen schließlich erreichte und setzte sich einfach nur neben sie.
Sie schwiegen ein paar Minuten, sahen auf den See und beobachten die kleinen Wellen, die manchmal Sofias Zehen erzeugten und manchmal auch ein kleiner Windhauch.
Es war so leise, dass man beinahe hätte die Herzen der beiden Schlagen können, vielleicht sogar im Einklang, so sehr fühlten sie sich einander verbunden. Keines der Mädchen wollte daran denken, wie schmerzhaft und tränenreich der Abschied sein würde.
Schließlich hielt es Jessi nicht länger aus. „Ich würde ja jetzt sowas sagen wie 'Alles wird gut' oder 'Das ist doch halb so schlimm' oder irgendetwas anderes dämliches, aber wir wissen beide, dass es nichts ändern würde. Also ist die Frage, ob wir überhaupt darüber reden werden, oder es einfach sein lassen und weiter schweigend aufs Wasser starren.", sagte sie leise.
Sofia lächelte schwach. „Was nützt es denn darüber zu reden? Wir könnten das jetzt tun, ja. Aber wir würden zu dem gleichen Schluss kommen, wie all die anderen Male auch. Ich werde hier weg gehen. Du wirst hier sein, bei Zane und Rob. Wirst dein letztes Jahr an der Highschool genießen und Spaß haben. Ich werde mich damit quälen neue Menschen kennen lernen zu müssen und vermutlich die ersten Wochen in den Pausen trotzdem alleine irgendwo sitzen, weil ich andere Menschen hasse.", murmelte ich wahrheitsgemäß.
Jess lachte leise und so freudlos, dass sich Sofias Brust zusammenzog. Am liebsten wäre sie auf der Stelle in Tränen ausgebrochen. Doch sie musste ja wenigstens versuchen den Schein zu wahren.
„Dann also Schweigen und die Tatsache verdrängen, dass wir nur noch eine Woche gemeinsam haben?"
„Ja, wir verdrängen das.", bestätigte Sofia tonlos, nicht in der Lage auszusprechen, wie sehr es ihr weh tut. Aber das musste sie auch nicht, Jess wusste es ohnehin.
Sie wollte nicht darüber nachdenken wie es ohne Jess wäre. Selbst die Jungs – Zane und Rob – würde sie vermissen, obwohl die beiden sie meistens zur Weißglut trieben und das aus voller Ansicht, wäre es einfach nicht mehr das Gleiche ohne sie.
Die vier waren eine Clique, einfach unzertrennlich. Es zerriss ihr das Herz sie alleine lassen zu müssen.
Vor allem mit Tracy und Jenni mitsamt ihrer Bande, die aus dumm, dümmer und am dümmsten bestand. Diese Biester waren eine Plage und legten sich andauernd vollkommen grundlos mit ihnen an, suchten Streit. Sie waren einfach dämlich und streitsüchtig und das war eine wirklich nervenaufreibende Kombination.
Mit dummen Menschen zu streiten ist so, als würde an einen Elefanten von einer Klippe werfen wollen und hoffen, dass er wie Dumbo mit Hilfe seiner Ohren fliegen könne. Genau, vollkommen sinnlos und pure Zeitverschwendung.
Ein angenehmer warmer Wind ließ die Haare der beiden tanzen und einzelne Haarsträhnen kitzelten sie an den Nasen. Fast synchron strichen sie sich die widerspenstigen Strähnen hinter die Ohren.
„Soll ich die Jungs anrufen? Sie könnten bestimmt Bier besorgen und wir gehen ins alte Haus und trinken ein wenig und lenken uns ab?", fragte Jess.
„Uns betrinken, wie hirnlose Teenager das eben so machen? Klingt nach einem guten Plan.", antwortete Sofia nach kurzem Überlegen. Verdrängen war der Plan und den würde sie jetzt auch einhalten.
„Perfekt." Jess lächelte traurig. Sie umarmte Sofia kurz bevor sie aufstand und die Traurigkeit auf de Steg ließ auf dem sie eben noch gesessen hatte. „Hör auf zu schmollen. Wir werden ja noch beide depressiv, wenn das eine ganze Woche lang so weitergeht.", bestimmte sie.
Und wie Recht sie doch damit hatte. Diese Traurigkeit würde sie in ihren Sog ziehen und nicht mehr raus lassen. Nur immer tiefer hinein saugen.
Also tat Sofia es ihrer besten Freundin nach, ließ ihre Traurigkeit auf dem Steg, schüttelte sie ab, wie man es mit Schnee tat, wenn man das Haus betrat. Kein Geheule, kein Gejammer, kein Gedanke an dem Umzug – zumindest nicht mehr für heute.
Und als sie aufstand fühlte Sofia, wie eine erdrückende Last von ihr abfiel. Sie stellte es sich bildlich vor, wie die Traurigkeit ihre Krallen aus ihrer Brust zog und von ihrem Rücken sprang um auf dem Steg auf sie zu warten. Und das schien nur noch besser zu wirken. Sie holte tief Luft, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
„Hast du Lust auch da zu schlafen? Wir könnten Schlafsäcke mitnehmen und Proviant. Ich würde ja auch die Jungs etwas mitbringen lassen, aber ich glaube mehr als Bier können wir von ihnen nicht erwarten. Die Schlafsäcke würden sie vergessen und als Proviant würde dann entweder das Bier gezählt werden oder es gäbe nur Chips.", lachte Jess. Und Sofia spürte, das das ein echtes Lachen war. Sie war schon immer gut darin gewesen negative Gefühle schnell abzuschütteln. Sofia war darin eigentlich weniger begabt, doch sie würde all ihr Hab und Gut darauf verwetten, dass Jess ihr dabei grade irgendwie geholfen hat.
„Chips sind zwar schön und gut, aber wenn ich Hunger kriege, laufe ich vermutlich nachts durch den Wald auf der Suche nach etwas essbarem.", antwortete Sofia und grinste.
Sie entschieden sich, dass Jess die beiden anruft. Würde Sofia es tun, würden die beiden Idioten in der momentanen Situation, fürsorglich wie sie sind, denken, dass Sofia kurz vor einem Nervenzusammenbruch war und die Fragerei würde das Gespräch nur unnötig in die Länge ziehen. Und ja, zeitweise war sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch, doch das tat nicht zur Sache. Zane wurde von ihnen nicht angerufen. Aus mehreren Gründen. Zum einen, weil er niemals an sein gottverdammtes Telefon ging und zum anderen, weil er mit einer Wahrscheinlichkeit von ungefähr neunundneunzig Prozent sowieso bei Rob war.
Rob hingeben, ging immer ans Telefon. Immer. Was seine Vorteile als auch seine Nachteile hatte. Es ging nicht sonderlich gut für Robby aus, als er nachts einen Anruf von Sofia entgegen nahm und eine weibliche Stimme äußerst empört wissen wollte was ihm denn einfiel 'den Anruf einer Anderen anzunehmen, während sie hier beschäftigt waren'.
Und Jess meisterte das Ganze, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als Befehle durchs Telefon zu erteilen.
„Wir treffen uns in einer Stunde am alten Haus. Ihr sorgt für Bier und Sofia und ich besorgen alles andere. Wir übernachten da. Bis später." Und schon hatte sie wieder aufgelegt. Sofia musste lachen. Vermutlich hatte Rob die Hälfte nicht verstanden.
Also hob Sofia ihre Schuhe auf und die beiden machten sich auf den Weg nach Hause.
Jess hielt ihr Telefon noch in der Hand. Höchstwahrscheinlich würde Rob gleich zurückrufen und absolut neben der Spur wie er nun mal meistens ist, nachfragen was Jess da denn genau gesagt hatte. Natürlich nur um auf Nummer sicher zu gehen. Und vielleicht auch um durch Jess an Informationen bezüglich Sofias emotionalen Zustands zu gelangen.
Sie redeten nicht viel auf dem Weg, doch das war in Ordnung für Sofia.
Sofia und Jess konnten die Art Freundinnen sein, die einen ganzen Tag zusammen verbringen konnten ohne auch nur ein Wort miteinander zu sprechen und gleichzeitig auch die Art, die sich gegenseitig daran erinnern mussten Luft zu holen beim Sprechen. Zumindest ab und an mal.
Sofia verspürte den Widerhall des Verlangens in Erinnerungen zu schwelgen. Sie schielte rüber zu Jess, die einfach nur gerade aus sah auf den Weg, dem sie folgten. Sie war Jess dankbar, dass sie schwieg. Ein einziges „Weißt du noch damals, als wir..." und ihre Traurigkeit würde sie so schnell einholen wie Housten Bolt es tun würde. Obwohl das nicht stimmt. Viel eher würde die Traurigkeit sie treffen wie ein Güterzug. Doch Sofia konnte das jetzt nicht ignorieren. Also stupste sie Jess mit der Schulter. Diese drehte den Kopf und sah ein wenig irritiert drein.
„Und wenn ich ans andere Ende der Welt ziehen muss, für uns ändert sich nur eines. Wir können und nicht mehr anfassen. Aber wir können uns sehen und hören durch Videoanrufe. Und wenn du mich hier brauchst, verspreche ich dir, dass ich einen Weg finden werde hier zu sein."
Jess lächelte ihre beste Freundin an und ihr wurde mal wieder vor Augen geführt, warum eben Sofia ihre beste Freundin war. Weil sie immer da war und der loyalste Mensch des Universums war. Also tat Jess das einzig richtige in einer solch ernsten und sentimentalen Situation.
Sie stupste Sofia zurück und fragte sie: „Moment, ich dachte wir gehen saufen? Zum rumheulen müssen wir aber wieder zurück an den Steg. Sollen wir doch umdrehen?"
Das machte Freundschaft aus. Freunde wusste, wann sie ernst bleiben sollten, wann man sie braucht und sie einfach neben einem sitzen und da sein müssen. Mehr nicht nur da sein. Oder im Umkehrschluss auch, wann sie einen aufziehen konnten.

🥀 Diana

Devils SoulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt