8. Kapitel

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Als das Floß am Horizont verschwunden war, wandte Tyra sich um und ging los. Ivar hatte sie wieder losgelassen, doch bevor sie aus seiner Reichweite verschwinden konnte, fasste er sie erneut am Arm.
"Willst du noch bleiben? "
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ab.
Er ließ sie gehen und schloss sich dem Zug an, der sich Richtung Klippe in Bewegung setzte.
Hoch oben, fast am Abgrund zum Meer, stand das prächtige Familienhaus, in dem Tyra ihre Kindheit und frühe Jugend verbracht hatte. Dort fanden sich nun alle geladenen Trauergäste ein. Ivar sah sich um, doch ... Tyra war verschwunden. Leise fluchend machte er auf dem Absatz kehrt, ging noch einmal nach draußen und sah sich suchend um. Er hätte sie nicht allein lassen dürfen. Wer wusste schon, was gerade in ihrem Kopf vorging? Vielleicht ... wollte sie sich von der Klippe stürzen oder ... Entsetzt rannte er zu den Klippen, die nur wenige hundert Meter entfernt waren. Hektisch sah er sich um und beugte sich vorsichtig über den Rand, spähte umher.
Aber er sah sie nicht ... weder mit dem Kopf nach unten im Wasser treibend, noch lag der tote Körper angeschwemmt am Strand.
Und dann ... dann sah er sie. Erleichtert drehte er um und rannte zum Strand hinunter.
Dort saß sie. In den Dünen. Und starrte auf das Meer hinaus.
"Tyra, was machst du denn hier?"
Doch sie antwortete nicht. Vielleicht hatte sie ihn auch einfach nicht gehört. Also ging er näher, und setzte sich neben sie in den Sand. Der Wind blies sanft und mild und die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen. Er war versucht, einen neuen Versuch zu starten, doch er ließ sie in Ruhe. Es war besser, sie in Sicherheit zu wissen, und nicht auf irgendeiner Klippe. Er wollte sie jetzt nicht stören. Vielleicht unterhielt sie sich gerade mit ihrer Mutter. Er hatte das oft getan, hatte sich, wenn er für sich war, mit seinen Eltern unterhalten. Im Stillen. Denn dann, wenn alles um ihn rum ruhig gewesen war, hatte er ihre Stimmen hören können. Das hatte ihm Trost gespendet und ihm geholfen, die Trauer zu verarbeiten.
Deshalb ... wollte er Tyra jetzt nicht stören. Also saßen sie nebeneinander im Sand, sahen aufs Meer hinaus und hingen ihren Gedanken nach.
Eigentlich wollte sie ihn gerade einfach nicht sehen. Sie wollte für sich sein und über ihre Zukunft und über ihre Mama nachdenken. Tyra vermisste sie. Schmerzlich. Und am allermeisten tat das Wissen weh, dass sie sich nie wieder sehen würden. Nicht in diesem Leben und nicht im Diesseits. Sie hoffte, dass sie nun gut aufgehoben war, dort, wo auch immer sie war. Tyra glaubte daran, dass die Menschen weiter existieren würden, auch wenn sie für die anderen tot waren. Sie hoffte, dass sie einmal ihre Mutter wiedersehen konnte.
Sie legte ihren Kopf auf ihren angezogenen Knie und schloss die Augen. Sie war es nicht gewohnt, dass Ivar und sie so nah beieinander waren. Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte, also beschloss sie, etwas Abstand zwischen sie zu bringen.
Sie stand auf und ging davon. Sie hörte, wie er sich ebenfalls aufrappelte und ihr hinterherkam.
"Tyra", hörte sie durch den Wind und drehte sich mit leichtem Widerwillen zu ihm um.
"Was denn?"
"Wo willst du hin? Willst du weg?"
"Weg?"
"Ja, ob du nach Hause willst."
"Ich bin doch schon zu Hause?!"
Er sah sie verwirrt an.
"Du lebst seit drei Jahren bei mir, und meine Burg ist mein Zuhaus, also auch deins."
"Ich war noch nie 'Zuhaus' bei Euch."
"Was soll das heißen?"
Langsam wurde er wütend. Er hatte wirklich alles getan, um es ihr so erträglich wie möglich zu machen. Warum warf sie ihm denn dann jetzt diese Sachen an den Kopf?
"Ich dulde das nicht! Du bist in meiner Burg Zuhaus und Ende!"
"Nein, bin ich nicht."
Im Gegensatz zu ihm blieb sie ganz ruhig. Sie sahen sich die ganze Zeit über an er studierte ihr Gesicht, um irgendein Anzeichen zu finden, warum sich seine Frau auf einmal so seltsam verhielt. Vielleicht lag es an der Verabschiedung ihrer Mutter. Vielleicht war sie nicht ganz bei Sinnen gewesen, als sie das eben gesagt hatte. So etwas konnte sie doch nicht ohne Grund sagen!
"Warum behandelst du mein Zuhaus, als wäre es nichts wert? Ich hätte dich damals auch abwehren können! Du hättest bei deinen Eltern leben können, ich hätte mich mit anderen Frauen vergnügt ..."
"Das tut Ihr doch sowieso!", brach es empört aus ihr heraus.
"Nein, das stimmt nicht. Ich habe keine andere Frau mehr angefasst, seit wir verheiratet sind."
Auf einmal war sein Ton ernst. Seine Augen blickten sie drängend an, wie um sie dazu zu bringen, ihm zu glauben.
Sie senkte den Kopf und sah auf den Sand zu ihren Füßen.
"Es hat mich damals sehr verletzt, als wir verlobt waren und Ihr bei jedem meiner Besuche eine neue Frau hattet."
Fast schon beschämt senkte auch er den Kopf und blickte zu Boden, sah aber schnell wieder auf.
"Seit wir verheiratet sind, hab ich keine andere Frau mehr angefasst. Bitte glaub mir!"
Bei seinen letzten Worten hatte auch sie den Kopf wieder gehoben und sah ihm wieder in die Augen. Er erwiderte diesen Blick und wartete gespannt darauf, was sie antworten würde.

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