Kapitel 6

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Gestern musste ich meiner Familie nach der Abfahrt von Tante Carol noch ziemlich viel erklären. Warum ich meine Meinung geändert hatte, ob ich zuhause Streit mit Sophie und Ben gehabt hatte oder was überhaupt in letzter Zeit mit mir los war. Den wahren Grund, nämlich, dass ich nur wegen Manuel hiergeblieben war, erwähnte ich mit keiner Silbe. Im Nachhinein gesehen, war es nicht sehr schlau von mir, mir so unüberlegt vorzustellen, dass ich mich in der restlichen Zeit des Urlaubs wieder mit Manu vertragen könnte. Aber jetzt würde ich alles daransetzen, diese Hoffnung in die Realität umzuwandeln. Was sich jedoch als schwieriger herausstellte, als es sich anhörte. Ich konnte nicht mehr zählen, wie oft ich mich mit dem Nintendo auf die Bank gesetzt hatte, an Manuels Ferienwohnung und am Minigolfplatz vorbeigegangen war oder seine Tweets und Videos angesehen hatte. Doch ich begegnete ihm einfach nicht wieder. Als weitere Schwierigkeit gab es da noch die unzähligen Anrufe von Ben. Ich drückte ihn immer weg, aber bald versuchte er es wieder und wieder. Ich telefonierte auch eine Weile lang mit Sophie. Zum einen konnte sie mir Ratschläge geben und zum anderen war die Leitung für meinen Exfreund somit blockiert, weshalb diese Tätigkeit sehr effektiv war.

Ich lief gerade zum x-ten Mal an diesem Tag von der Eisdiele bis zum Minigolfplatz hin und her, als ich Dani traf, die mir gleich fröhlich zuwinkte. „Hallo Miriam, wie geht es dir?", fragte sie mich. Ich dachte kurz über eine Antwort nach. Okay? Gut? Beschissen? Ich fühle mich wie eine Stalkerin? Ich entschied mich für ein ehrliches „Geht so." Dani blickte mich verständnisvoll an. „Ist es wegen deinem ehemaligen Freund?" „Nein. Es gibt nur eine ganz andere Person die mich momentan beschäftigt", gab ich zu. „Geht es um einen Jungen?", hakte Dani nach. Ich nickte und lenkte gleich von diesem Thema ab. „Und wie geht es euch?" „Gut, wir werden morgen an den Strand gehen", sagte Dani. Wir unterhielten uns noch kurz, dann wurde sie von Peter gerufen. Als ich zu unserer Wohnung zurückkehren wollte, fiel mir ein Plakat auf, welches an der kleinen Strandbar befestigt wurde. Fett gedruckt stand auf dem Poster die Überschrift „The night of music." Interessiert begann ich zu lesen. Auf dem Feriengelände sollte bald ein Abend stattfinden, an dem eine Bühne aufgebaut wurde, auf der dann verschiedene Musiker und Gäste auftreten sollten. Das war doch perfekt für mich! Man musste sich nur im Hauptgebäude an der Rezeption dafür anmelden. Meine Laune besserte sich enorm und keine zehn Minuten später war ich, Miriam Steinfeld, ein fester Bestandteil des Programms.

„Wie wäre es, wenn wir alle morgen an den Strand gehen würden?", fragte ich so beiläufig wie möglich, als meine Familie am Esszimmertisch versammelt war. Von meinem Vater kam nur ein „Hm", doch Zoe war hellauf begeistert. „Stimmt, wir waren noch gar nicht im Wasser!" Meine Mutter freute sich darüber, dass ich Vorschläge für den Urlaub beitrug. „Toll, dass du dir darüber Gedanken gemacht hast, aber wir besuchen morgen schon eine Ausstellung in einem Museum." Bitte was?! Ich musste meine Eltern irgendwie umstimmen... Aber so sehr ich auch bettelte, mir wurde nur gesagt, dass man das auf keinen Fall verschieben könne und der Strand uns ja nicht weglaufen würde. Der Strand nicht, sondern die Chance, alles mit Manuel wieder hinzubiegen, dachte ich verzweifelt. „Tut mir leid, aber wir haben die Karten schon gekauft." Und damit war die Diskussion beendet.

Ich gähnte. Ich hatte mir meinen Handywecker extra für sechs Uhr gestellt, um so früh wie ich es in den Ferien ertrug, aufzustehen. Meine Eltern würden wahrscheinlich erst um acht Uhr wach werden und meine kleine Schwester schlief sowieso noch länger, deshalb hatte ich für die Ausführung meiner Strategie etwa zwei Stunden. Das musste eindeutig reichen, um einen Museumsbesuch zu verhindern. Auf Zehenspitzen schlich ich über die Dielen des Holzbodens, um niemanden zu wecken. Den Autoschlüssel nahm ich gleich in meine Obhut, doch ich wusste genau, dass wir im Notfall zu Fuß zu der Kunstaustellung laufen mussten. Daher brauchte ich unbedingt unsere Eintrittskarten! Ich suchte viel zu lang, bis ich endlich den Umschlag gefunden hatte, in dem sich die Tickets befanden. Aus Erfahrung war mir auch bewusst, wie wichtig meine Mutter Sonnenschutz fand. Also war mein nächster Stop das Bad, in dem alle unsere Sonnencremes standen. Sogar die Landkarte kramte ich aus dem Rucksack meines Vaters, denn diese Karte brauchte er besonders zur Orientierung. Leider wusste ich nicht, wo ich all diese Sachen verstecken sollte, daher blieben der Schlüssel und die zusammengefaltete Landkarte in meinen Hosentaschen, die Karten und die Sonnencremes legte ich ganz unten in meinen Koffer. Zufrieden stellte ich fest, dass ich noch genügend Zeit übrig hatte, also deckte ich schon mal den Tisch für das Frühstück. Es gab schließlich kein besseres Alibi für frühes Aufstehen als eine überraschende Mahlzeit am Morgen. Letztendlich konnte ich sogar noch etwas Make-up auftragen und mein Outfit zusammenstellen, bevor die Stunde der Wahrheit kam: Meine Mutter und mein Vater wachten auf. Sie freuten sich sehr über den gedeckten Tisch und alles verlief genauso, wie es sein sollte. Na ja, zumindest am Anfang. Denn schon bald bemerkten sie, dass etwas fehlte und fingen an zu suchen. Ich war sehr erleichtert als sie nichts fanden, setzte mich auf einen Stuhl und schloss entspannt die Augen, um nach mich nach der ganzen Arbeit einmal auszuruhen... „Ich habe die Eintrittskarten!", rief mein Vater aufgeregt. Ich riss meine Augen erschrocken auf. Wie konnte das nur sein? Aber tatsächlich, in seiner Hand hielt er die Tickets für das Museum. Ich rannte in mein Zimmer und überprüfte meinen Koffer. Der Umschlag lag nach wie vor dort, wo ich ihn versteckt hatte. Nur leider war der Umschlag leer. Schon die ganze Zeit. Betrübt schleppte ich mich zurück ins Esszimmer. Vielleicht würden die Büttingers schon nach diesem Tag am Strand abreisen, und ich konnte es nicht mal versuchen, mich mit Manuel zu versöhnen. Ich kam gerade in Versuchung, meinen Kopf gegen den Tisch zu hauen, als meine Mutter wieder das Wort ergriff, die gerade mit zusammengekniffenen Augen die Eintrittskarten unter die Lupe nahm. „Welches Datum haben wir heute?" „Ähm, heute ist der neunte", antwortete ich. „Die Karten sind für morgen! Nicht für heute. Miriam, wo wolltest du nochmal hin?" Aufgeregt flitzte ich in das Zimmer von mir und meiner Schwester, rüttelte Zoe hin und her und verkündete: „Los Zoe, beeil dich! Wir gehen an den Strand!"

Mitmeiner Hand schützte ich mein Gesicht vor der Sonne. Der Strand war zwar nichtgerade überfüllt, aber es reichte dafür, die Büttingers nicht erkennen zukönnen. „Wo sollen wir uns jetzt hinlegen?", fragte mein Vater, der mit unsererStrandtasche und unseren Handtüchern am meisten trug. Ich machte eineabwehrende Handbewegung und nuschelte: „Ich hab's gleich, gib mir noch eineMinute... oder zwei." In dem Getümmel konnte ich keine Person ausfindig machen,doch das Schicksal meinte es gut mit mir. Dani und Peter hatten uns entdecktund winkten uns zu sich. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht steuerten wir aufdie beiden zu und breiteten unsere Handtücher neben ihnen aus. Meinfliederfarbenes Handtuch legte ich neben ein dunkelblau-schwarz gestreiftesHandtuch und hoffte, dass es auch wirklich Manuel gehörte. Er selbst war nichtbei seinem Bruder und dessen Frau. Wahrscheinlich hatte ich zu offensichtlich nach Manu Ausschau gehalten, denn Dani verriet mir zwinkernd, er wäre schoneine Runde schwimmen gegangen. Ich lief also ins Wasser und fing an zuschwimmen, wobei mir sofort wieder mein Song einfiel. Ob Manuel das Video wohlgesehen hatte? Bis zum Schluss? Und wenn ja, gab er mir jetzt noch eine Chance?Ich würde es gleich erfahren, denn wie ich gesehen hatte, machte er gerade aufeiner kleinen Badeinsel Pause. Verdammt, sah er gut aus, mit diesen Wassertropfenauf seinem Körper und seinen dunklen, nassen Haaren, die ihm ins Gesichtfielen. Unbemerkt konnte ich mich ebenfalls auf die Badeinsel, in seine Nähesetzen. Nach ein paar Minuten sagte ich zaghaft: „Hallo." Manuel bekam einenSchock und sagte gleich zu mir, ich sollte ihn gefälligst in Ruhe lassen. Allein blieb ich zurück und schaute zu, wie er an den Strand zurückkehrte. Undfür den Rest des Tages ignorierte er mich und sprach kein Wort mehr mit mir.

Ein Urlaub ohne MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt