Einige Zeit zuvor
Nur weg hier. Die Botschaft war eindeutig. Kapitän Drake hatte ihr Ziel zwar nicht direkt zur Diskussion gestellt, aber er hörte zu, wenn seine Männer sich unterhielten. Er fragte nach, bat Jesse hier und da Vorschläge zu unterbreiten und darauf zu horchen, wie sie angenommen wurden. Sie hatten alle genug von der alten Welt, sie waren schon viel zu lange hier. Die Zusammensetzung der Mannschaft änderte sich zwar immer mal wieder, aber es gab genug Männer, die schon lange auf der Dragon segelten. Sie waren mit ihm gekommen, vor einigen Jahren, als die Sorgen um seine Familie ihn nicht mehr loslassen wollte. Und obgleich dieser Besuch in England ein Desaster wurde und unter anderem in einem königlichen Haftbefehl geendet hatte, waren sie geblieben. Viele hatten noch Familienmitglieder auf der Insel oder dem Festland, die froh waren von ihnen zu hören. Mütter, Väter, Ehefrauen, ehemalige Ehefrauen... Und das Mittelmeer und die Atlantikküste hatten sich als treffliches Jagdgebiet erwiesen. Es gar hier keine Reichtümer zu holen, die wurde immer noch in großen Flotten von den amerikanischen Inseln nach Spanien und England transportiert, aber es reichte für ein gutes Leben. Und Francis konnte den Gräbern seiner Lieben so nahe sein, wie es nun mal möglich war, wenn man von der Marine gesucht wurde.
Frankreich hatte alles geändert. Der Schock der Gefangennahme, die öffentliche Strafe und der Schrecken des Urteils, das über ihnen geschwebt hatte, hatte ihnen jede Liebe zu diesem Kontinent ausgetrieben. Und vielleicht war ihnen jetzt erst klar, was es hieß, gesuchte Verbrecher zu sein. Jedem dieser Männer würde es auch in seinem eigenen Heimatland nicht besser ergehen. Piraterie wurde mittlerweile hart bestraft, zu groß waren die Schäden, die sie verursachte. Die Nationalität des Beschuldigten spielte höchstens dann eine Rolle, wenn der Priester ihm die letzte Beiche in seiner Landessprache abnehmen wollte.
Und dann war da noch der Käpt'n. Körperlich wiederhergestellt und auf den ersten Blick auch bei bester geistiger Gesundheit hatte er immer wieder seine... Momente. Er war nie feige gewesen, aber gelegentlich erschraken seine Männer über die Tollkühnheit, mit der er sein Leben riskierte. Sie führten Angriffe auf Schiffe aus, die ihnen deutlich überlegen waren. Aber die schwarzen Segel, der Schlachtruf des Kapitäns und der nur schwer beherrschbare Blutdurst, mit dem er auf die fremde Besatzung losging, das alles ließ ihre Opfer zittern und sich meist sofort ergeben. Manchmal wirkte Francis enttäuscht darüber.
Es blieb die Erkenntnis, dass sie hier nichts mehr zu verlieren hatten. Aber auch nichts mehr zu gewinnen. Für einige war es eine Rückkehr, für andere aufregendes Neuland, aber für alle war es der einzig mögliche Weg. Blieb noch die Frage, wer sie begleiten würde.
Esmeralda war zwar Teil der Crew, aber jedem war klar, dass sie noch eigene Ziele verfolgte, die nichts mit Plündern und Feiern zu tun hatten. Sie suchte ihn. In jedem Hafen, den sie anzusteuern wagten, verließ sie das Schiff und kam oft erst Tagespäter zurück. Sie warten stets auf sie. Sie kam immer wieder, manchmal mit einem grimmigen Lächeln und stolzer Haltung, manchmal zerzaust und gehetzt und einmal im Laufschritt, blutüberströmt und mit einem Dolch in der Hand. Er war nicht ihr Blut gewesen. Aber so rechte Erkenntnisse hatte sie nicht vorzuweisen.
Er war und blieb verschwunden. Man munkelte von einem Streit, einem Auftrag, einer Verbannung, einem Mordanschlag, einem Skandal, eigentlich gab es kein Gerücht, das nicht bereits im Umlauf war. Zumindest was Esmeraldas spezielle Quellen anging. Das gemeine Volk oder auch ihre befreundeten Freibeuter und Piraten kannten den Marquis kaum und interessierten sich auch nicht für seinen Aufenthaltsort. Er war nur einer von vielen Adligen, die ihnen das Leben schwer machten, und wenn die Geschichte mit Francis nicht gewesen wäre, hätte wohl kaum jemand seinen Namen gekannt.
Marquis Karvanté. Machthungriger Möchtegernpolitiker, Geliebter der Königin, selbsternannter Piratenjäger. Und Esmeraldas Ziehvater. Wo hatte er sich verkrochen?
Den Gerüchten nach, denen man am ehesten trauen konnte, hatte es wirklich ein Zerwürfnis zwischen ihm und Isabella gegeben. Ob ihr Mann nun tatsächlich hinter ihr Verhältnis gekommen war oder ob es andere Gründe für eine Trennung gegeben haben könnte, war nicht zu sagen. Fest stand, dass er zuletzt auf einem großen Frachtschiff gesehen worden war, das vielleicht oder vielleicht auch nicht Kurs auf die karibischen Inseln genommen hatte. Ob das jetzt ein Argument für ihre eigene Abreise war? Sicher, sie wollten ihn alle zur Strecke bringen, aber das war und sollte nicht ihr vordringlichstes Ziel sein. Sie wollten frei sein von diesem Schatten, der noch über ihnen schwebte. Und einen Fahrt übers Meer, zu einem neuen Horizont, einem neuen Himmel, unter dem die Sitten lockerer und die Menschen freier waren, das passte allen ganz gut in den Sinn.
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Einmal um die Welt (Piratenblut 2)
AventuraFrancis, Jesse und Esmeralda auf dem Weg in die Freiheit. Wo schon eine sehr spezielle Freundin, ein fast vergessenes Versprechen, jede Menge Wein und Gesang und ein gut versteckter Lieblingsfeind warten. Das ist die Fortsetzung von "Piratenblut": ...