Als Francis gegangen war, verdüsterte sich Jesses Miene von einem Moment auf den anderen. Sein Lachen verebbte, sein Grinsen verblasste und zurück blieb etwas, das Anne nicht deuten konnte. Er sah traurig aus, verbittert und verletzt und unter all dem kochte etwas, das sie nur als Wut deuten konnte.
„Francis, was ist los? Sieh mich an, was habe ich getan?"
„Ich... Nichts, Jesse. Es ist nichts, wirklich, vergiss es einfach..."
Natürlich ist etwas. Dir fehlt etwas. Vertrauen.Er kniff die Augen zusammen und sie sah, wie er um Fassung rang. So schlimm?
„Jessie, du machst mir Angst. Was ist passiert?"
„Was passiert ist..." Er flüsterte es fast und rieb sich dann mit einer Hand über das Gesicht. „Anne, es ist kompliziert."
„Lass es mich einfacher machen." Sie schnappte nach seinem Hemd, riss es hoch und krallte die Hand in die verletzte Haut darunter. Jesse keuchte und zuckte von ihr weg, aber sie ließ nicht los und riss den Stoff über seinem Rücken nach oben. Deutlich rote Male zerschnitten seine Haut, ein Gitter aus getrocknetem Blut und blau verfärbten Striemen.
„Wer war das, Jesse?"
Sein Blick wurde mörderisch und Anne dämmerte, was der Grund für die ganze Spannung sein könnte.
„Der Einzige auf einem Schiff, der das Recht hat, einen ersten Maat so zu verprügeln, ist..."
„Sein Kapitän."
Jesse spuckte das Wort förmlich aus. Anne runzelte die Stirn. Sie hatte Geschichten gehört, von Francis Gefangennahme und Tod, das Triumphgeheul eines französischen Adligen, der bisher eher in den Schatten agiert hatte. Offensichtlich war ihnen die Flucht geglückt, aber dann... Was war dann passiert? Was war mit ihrem Bruder geschehen?
„Genau der. Käpt'n Drake, unser Held und nobler Anführer. Und er war gründlich, nicht wahr? Man sollte meinen, dass Folter einen Menschen irgendwie... zurückhaltender werden lässt. Stattdessen sieht es fast so aus, als hätte er richtig Spaß gehabt, als er die Katze über meinen Rücken gezogen hat."
„Jesse!" Anne schnappte nach Luft.
„Lass es." Er griff nach seinem Krug und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. „Das macht jetzt auch keinen Unterschied, das ist mein Problem."
„Das kannst du schön vergessen. Francis hat dich bestraft? Wie einen x-beliebigen Matrosen? Mit einer Peitsche? Was hast du getan?"
„Ich?! Ich soll daran Schuld sein, wenn er mir die Haut vom Körper reisst? Bei aller Liebe, jetzt gehst du zu weit."
„Ich kenne Francis genauso lange wie du. Ich weiß, was er tun wurde und was nicht. Und ich kenne dich, Bruder. Also, ich frage dich noch einmal, was hast du getan? Hast du ihn betrogen? Allen Rum gesoffen, das Schiff angezündet?"
„Ich habe ihn und den Gouverneur von Jamaica beschuldigt, es in seinem Büro zusammen getrieben zu haben."
Anne blieb der Mund offen stehen. Was zur Hölle.
„Wohl gemerkt, während ich keine zehn Minuten vorher einen der Bordelljungs gegen die Wand gevögelt habe. Ach ja, und ich war sturzbetrunken und habe Campbell eins auf die Nase gegeben. An mehr kann ich mich leider nicht mehr erinnern."
Anne hatte den Mund wieder zugeklappt und raufte sich die roten Haare.
„Und du lebst noch."
„Jawohl. Der Kapitän schätzt meinen Arsch wohl doch noch so sehr, um ihn vor dem Henker zu bewahren. Allerdings dann wieder nicht so sehr, um mich auch nur mit einem Wort zu verteidigen."
„Was hätte er denn tun sollen?"
„Ich weiß es nicht. Irgendetwas. Francis ist anders. Härter, kälter und... so weit weg. Du hättest ihn sehen sollen, Anne! Er war so gut wie tot, ein Haufen Fleisch und Knochen. Dieser Bastard hat ihn in die Hölle geschickt und ich wäre am Liebsten hinterhergesprungen. Ein Teil von ihm ist in dieser verfluchten Stadt gestorben und ich bin selbstsüchtig genug, um ihn zu vermissen. Seine Unbeschwertheit, seine Fröhlichkeit. Ich dachte, ich hätte ihn verloren, Anne. Ich dachte, ich müsste den einzigen Menschen begraben, der je... und dann taucht er wieder auf und kämpft sich ins Leben zurück." Jesse lächelte leise. „Zuerst nur eine leere Hülle, ein Schatten des Mannes, den ich so sehr geliebt habe. Und das tue ich immer noch. Aber ich kann ihn einfach nicht erreichen. Er lacht mich an, fickt mich wie ein junger Gott, aber sobald ich ihn anfasse, wird er zu einem Fremden. Es wird besser, ja irgendwie, ein bisschen. Und ich sollte ihm Zeit geben. Aber dann gibt es Momente, da möchte ich einfach aufgeben. Ich kann das nicht mehr, Anne."
Sie hörte seine Stimme brechen und schob ihm eilig ihren Krug hin. Das gab ihm zumindest ein paar Minuten Zeit, um seine Gedanken zu sortieren.
„Ich glaube, vielleicht sollte ich ihn einfach ziehen lassen."
Langsam wurde es ihr zu viel. Dieses Selbstmitleid war ja nicht auszuhalten und sie musste es wissen, sie hatte Erfahrung mit Selbstmitleid.
„Nein, nein, nein! Hör auf damit. Hörst du dir überhaupt selber zu? Hör auf mit diesem Gejammer. Ich habe dich schon zu oft weglaufen sehen, mein Lieber. Benutze einmal dieses Hirn, das du angeblich in diesem Kopf mit dir spazieren trägst. Dein Herz hat dich schon einmal über den Ozean geführt, weil du das richtige getan hast. Francis ist ein guter Mann, lass ihn nicht allein. Reiss dich mal zusammen, du denkst doch wieder nur mit deinem Schwanz, Jesse."
„Glaubst du das wirklich?"
Jesse war aufgestanden, die Fäuste geballt. Ja, er war wütend und verletzt und gekränkt und vor allem hatte der die Schnauze voll.
„Glaubst du wirklich, ich denke an nichts anderes. Glaubst du wirklich, ich will einen Toten ficken?"
Und dann tat sie etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr getan hatte. Nicht mehr seit sie Kinder gewesen waren. Sie holte aus und schlug ihm ins Gesicht. Und er tat etwas, das er noch nie getan hatte. Er wehrte sich nicht, er beschimpfte sie nicht, er hob nur kurz die Hand zu seiner Wange, stand dann wortlos auf und ließ sie einfach stehen.Er kam nicht weit. Die nächste Schenke nahm ihn mit offenen Armen auf, das Bier schmeckte dort genauso gut und die Gesellschaft war auch nicht schlechter. Er betrank sich in Rekordzeit.
Und als sich eine Hand in seine Hose schob, sagte er ebenfalls nicht nein. Bis ein falsches Wort fiel, eine Geste missgedeutet wurde und seine Fäuste ein willkommenes Ziel für all den aufgestauten Zorn in ihm fanden. Er war nicht auf der Höhe seiner Kraft, sein Blick war verschwommen, sein verbliebenes Auge zu müde, um die Arbeit von zweien zu leisten.
Aber das war ihm eigentlich egal. Alles war ihm irgendwie egal und als sein Gegner merkte, dass er verletzt war, beschimpfte Jesse ihn nur noch wüster. Hätte er noch klar denken können, wäre ihm vielleicht bewusst geworden, dass er hier auf diesem schmutzigen Boden sterben könnte, aber vermutlich wäre ihm auch das egal gewesen. Er spürte die Treffer in Magen und Gesicht kaum noch, er ließ sich einfach fallen, gab auf und sank in eine schwarz flackernde Bewusstlosigkeit, die ihm soviel süßer schien als die Wirklichkeit.
Als er etwas Feuchtes auf seinem Gesicht spürte, öffnete er die Augen einen Spalt breit. Anne stand über ihm, mit einer Miene wie ein Donnergrollen. Er lag zusammengerollt an einer Wand, halb unter einem zusammengebrochenen Tisch verborgen. Es stank nach Pisse und Blut und Jesse wollte die Augen einfach wieder zumachen.
„Nein," murmelte er. „Nein, nicht. Lasst mich hier, lasst mich einfach hier liegen. Bitte."
Weiteres Wasser folgte, einer ganzer Eimer voll wurde über ihm ausgeleert. Das brachte ihn wieder einigermaßen ins Land der Lebenden und er stolperte zwischen zwei Männern, die ihn zwischen sich festhielten, Richtung Hafen.
Francis stand an Deck, als sie ihn zurück an Bord stießen. Besorgt, wütend.
„Ich glaube, der gehört dir," sagte einer der Männer. „Da hast du ihn, pass in Zukunft besser auf ihn auf."
Jesse sagte nichts. Er spürte sein geschwollenes Gesicht, das getrocknete Blut und die Schnitte, die zerbrochene Krüge hinterlassen hatten. Er funkelte seinen Kapitän nur trotzig an, wandte sich dann ab und stolperte wortlos über die Treppe nach unten in den Bauch des Schiffes.
Dort kickte er die Stiefel von sich, schlüpfte aus der Weste und ließ beides auf den Boden fallen. Die Augenklappe landete daneben.
Die paar Männer, die gerade unter Deck zu tun hatten, stellten plötzlich alle fest, dass sie dringend frische Luft brauchten und es wurde ganz still. Die aufgespannten Hängematten schaukelten leicht und Jesse wusste auf einmal nicht mehr, wohin mit seiner Wut. Er warf sich in seine eigene Matte, rollte sich wie ein Kind zusammen und versuchte, die Stimme in seinem Kopf zu ignorieren, die ihm sagte, wie dumm er war.
Er hörte die Schritte auf der Treppe, zog es aber vor, sie zu ignorieren.
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Einmal um die Welt (Piratenblut 2)
AdventureFrancis, Jesse und Esmeralda auf dem Weg in die Freiheit. Wo schon eine sehr spezielle Freundin, ein fast vergessenes Versprechen, jede Menge Wein und Gesang und ein gut versteckter Lieblingsfeind warten. Das ist die Fortsetzung von "Piratenblut": ...