Mein Mann, mein Recht, meine Verantwortung

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Die Nacht war viel zu lang. Jesse konnte nicht schlafen, ihm war trotz der tropischen Temperaturen kalt. Der Rest der Mannschaft ging ihm weiträumig aus dem Weg und er fühlte sich auf einmal sehr allein. Was hatte er da nur getan? Wieso hatte er so die Kontrolle verloren? Er war doch nicht wirklich eifersüchtig und wenn man gedachte, was er selbst an diesem Abend getan hatte, hatte er auch kein Recht dazu. DAS war auch so eine Schnapsidee gewesen.
Warum waren ihm also so die Nerven durchgegangen? Nun, auch der ruhigste Kessel kochte wohl irgendwann über.
Der einzige Beistand, der ihm blieb, war Esmeralda. Sie fragte nur kurz, was passiert war und verlegte sich dann aufs kameradschaftliche Schweigen.

Am nächsten Morgen wurde es früh hell. Francis kam höchstselbst schon im Morgengrauen aus seiner Kajüte spaziert und streckte sich in der kühlen Luft. Er schien auch nicht viel geschlafen zu haben, graue Schatten lagen unter seinen Augen. In seinem Gürtel steckte die Peitsche. Dieses Ding wurde auf diesem Schiff sehr selten benutzt, seit Paris hatte er es überhaupt nicht mehr gesehen und das aus gutem Grund.
Jesses Augen folgten dem Kapitän, als er ein zusammengerolltes Stück Seil auf den Boden fallen ließ und dann die Peitsche daneben legte. Neben den Hauptmast, ausgerechnet dort. Sicher, es war der richtige Ort und der alte Haken steckte immer noch im Holz. Es würden sich wohl auch kaum Freiwillige finden, die Jesse festhalten würden, immerhin war er einer von ihnen und ihr erster Maat noch dazu. Und was er getan hatte, war... verständlich. Unter den gegebenen Umständen.
Francis wirkte wie betäubt, sein Gesicht war aschfahl. Wie ein Geist. Mein Geist.
Er reagierte kaum auf die Begrüßung seiner Männer, er legte nur die Hand auf das Holz des Mastes und versuchte, alle Gefühle aus seinem Kopf und seinem Herzen zu verbannen.
Es gibt keine anderen Möglichkeit, sagte er sich wieder und wieder.
Wir brauchen diesen Hafen. Und ER braucht eine Lektion.

Der Gouverneur traf pünktlich ein. Er wirkte ausgeschlafen und auf eine fast alberne Weise voller Vorfreude. Er schien die Beleidigung mittlerweile weggesteckt zu haben und sah dem bevorstehenden Schauspiel gespannt entgegen. Warum nur brachte ein hoher Rang scheinbar automatisch eine gehörige Portion Sadismus mit sich?
Die Crew war vollzählig anwesend. Wer immer noch nicht wusste, was passiert war, wurde schnell darüber ins Bild gesetzt.
Jesse hatte die Vorbereitungen am Achterdeck lehnend beobachtet, stand jetzt aber auf. Sie würden ihn nicht suchen müssen. Er würde sich hier keine Blöße geben, ganz bestimmt nicht.
Francis hatte ihn bemerkt und nickte ihm zu.
„Na dann, Dawson. Du weißt, weswegen wir hier sind. Ich werde deine Worte von gestern Abend nicht wiederholen, sei froh, dass du mit dem Leben davonkommst. Sir Campbell besteht zu Recht auf Genugtuung und ich... „ er holte Luft," kann ein solches Verhalten unter meinem Kommando nicht dulden. Wir haben uns auf 20 Hiebe geeinigt."
Oha, das würde kein Spaziergang werden. Jesse zog die Nase hoch und spuckte aus.
„Ich bin bereit, Käpt'n."
Er schlüpfte aus einem Hemd und fröstelte in der Morgenkälte. Mit ein paar Schritten hatte er den Mast erreicht. Er hob die Hände über den Kopf und Francis band sie ihm mit dem Seil zusammen und verhakte die Enden mit dem Eisen, das vor ewigen Zeiten in dieses Holz getrieben worden war. Jesse spürte, wie Francis Hände zitterten und wie schnell sein Atem ging.
„Es ist in Ordnung, Francis" flüsterte er. „Ich kann das wegstecken, wirklich."
Der Käpt'n legte ihm noch einmal kurz die Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid."
Jesse verdrehte die Augen. „Erspar mir das. Und sei überzeugend. Wenn du zu zimperlich bist, wird er das doch selbst übernehmen wollen und ich glaube kaum, das dann viel von mir übrig bleibt, schließlich habe ich ihn in seiner Mannesehre gekränkt mit meinem entsetzlichen Vorwurf... Außerdem habe ich deine Launen jetzt lange genug ertragen, das wird mich nicht umbringen. Käpt'n."
Francis schnaubte und in seinem Blick funkelte etwas.
„Das ist genau dein Problem, Maat. Fehlender Respekt."
Jesse wollte noch etwas erwidern, aber Francis war schon zurückgetreten und beugte sich sich jetzt zur Peitsche hinunter. Er schlug sich damit leicht gegen die Stiefel und sah zu Campbell hinüber.
„Habt ihr das Dokument hier?"
„Hier, in meiner Tasche, Kapitän. Ihr werdet es bekommen, sobald das hier vorbei ist."
Francis nickt und tat noch einen Schritt zurück.
Jesse streckte sich leicht, stellte die Beine etwas breiter und spannte sich an.
Francis zerriss es bei diesem Anblick fast das Herz. Wie hatte das passieren können? Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Das war seine Verantwortung, seine Schuld. Wie konnte er das nur, wie sollte er nur... Er sah so hilflos aus, wie er da stand. Wehrlos und verwundbar. Und furchtlos.
Jesse hatte sich Francis stets mit allem hingegeben, was er war. Nie hatte er gezögert, irgendetwas versteckt oder zurückgehalten. Und das, das sollte jetzt der Dank sein. Er vertraute ihm so sehr, dass er einfach hier stand und alles hinnehmen würde, was Francis über ihm entfesseln würde.
Es war ganz still geworden auf dem Schiff. Der Gouverneur tappte ungeduldig mit dem Fuß au die Planken, aber bevor er etwas sagen konnte, drehte Jesse den Kopf in Francis Richtung. Sein Gesicht war verzerrt von Wut und Trotz, oder Angst?
„Nun mach endlich! Oder willst du absichtlich grausam sein?"
Wieder schnaubte er und spuckte voller Verachtung auf den Boden. Und das riss Francis aus seiner Erstarrung. Als er die Peitsche hob, schloss er kurz die Augen und sah nicht, wie Jesses Blick wieder ruhiger wurde, als er sich umwandte und seinerseits mit geschlossenen Augen auf das Unvermeidliche wartete.
Francis holte aus und ließ die Katze mit Schwung auf Jesses nackten Rücken niederfahren. Blutige Striche erschienen auf seiner Haut, die an dieser Stelle doch so weich war. So weich, wenn er ihn dort berührte. Der zweite Hieb kam von der anderen Seite. Jesse zuckte und keuchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. Verdammt, das tat weh. Er presste die Stirn auf das Holz und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Rechts, links. Er fühlte die Haut aufplatzen, spürte wie es warm über den Rücken rann.
„Kapitän Drake, ich bitte euch. Das ist doch wohl keine angemessene Bestrafung. Vielleicht solltet ihr mir besser diese Peitsche reichen. Dieses Dokument..."
„Nein!" Francis atmete schwer. Er stand leicht vornübergebeugt, die rotblonden Locken über den Augen. Seine Zähne knirschten und er wandte sich Sir Campbell zu. Verbissen, grimmig, funkelte er ihn an.
„Mein Mann. Meine Verantwortung. Mein Recht."
Der Gouverneur zuckte zurück, dieser Blick machte ihm tatsächlich etwas Angst. Er hoffte nur, nie persönlich der Grund dieses Zorns zu werden. „Bitte, nun gut..."
Jesse drehte den Kopf wieder, versuchte zu erkennen, was hinter ihm geschah. Francis war wieder näher getreten, in seinen Augen glänzte es feucht. Seine Lippen formten Worte, die Jesse gerade so erkennen konnte. Und ihm wurde mit einem Mal kalt.
Verzeih mir.
In die nächsten Hiebe legte Francis seine ganze Kraft. Hinter einem Schleier aus Tränen und dem Dröhnen in seinen Ohren, nahm er kaum etwas wahr. Er führte die Peitsche präzise, hart und ohne noch einmal zu zögern.
Ich muss das tun. Er hat es so gewollt, er hat es doch herausgefordert.
Er hörte Jesses Schreie. Er sah, wie sein Freund sich aufbäumte, sich gegen die Fesseln stemmte.
War das wirklich seine Hand, die diese Waffe führte? War das wirklich sein Arm, der verkrampfte, wenn Lederriemen auf wehrlose Haut trafen?
Er zählte nicht mehr mit und als sich ihm eine Hand auf den Arm legte und den nächsten Schlag verhindert, fuhr er heftig zusammen.
„Das reicht." raunte ihm Esmeralda zu.
Er atmete einmal sehr tief ein. Und wieder aus. Und warf die Peitsche mit einer plötzlichen Heftigkeit zu Boden. Dann drehte er sich um und streckte die Hand aus.
„Die Genehmigung. Bitte."
Der Gouverneur reicht ihm ein versiegeltes Dokument und verbeugte sich leicht.
„Mit dem größten Vergnügen, Kapitän Drake. Ihr seid jederzeit in unserem Hafen willkommen. Das war eine beeindruckende Vorstellung." Damit wandte er sich um und verließ eilig mit seinen Begleitern das Schiff.
Jetzt wagte es Francis, wieder hinzusehen. Wenn er vorher schon blass gewesen war, wich ihm nun auch das letzte Blut aus dem Gesicht. Jesse lehnte noch am Mast, Esmeralda versuchte gerade, die Knoten seiner Fesseln zu lösen. Als ihr das nicht gelang, zückte sie ihr Messer und schnitt das Seil einfach durch.
Er konnte noch stehen, schwankte zwar leicht, aber mit einer Hand am Mast konnte er sich aufrecht halten. Jesses Rücken war blutüberströmt und hier und da sah man lose Hautfetzen. Er hatte sehr präzise zugeschlagen. Die roten Striemen zogen sich kreuzweise über Jesses Rücken, nur manchmal war er abgerutscht und hatte Arme oder Hüfte getroffen.
Ich habe das getan. Ich habe diese verdammte Genehmigung mit Jesses Blut erkauft.
Und alles nur, weil er nicht ehrlich genug war. Nicht genug vertraute, nicht vertrauen konnte. Trotz allem, er hätte mit ihm reden können, sich erklären, sie hätten zusammen...
Francis wurde schlecht. Er ließ sich auf die Knie sinken, das Pergament immer noch in der Faust.
Nicht genug geliebt.

Esmeralda stützte Jesse auf dem Weg in die Kapitänskajüte. Das war der einzige Ort auf dem Schiff, der derzeit genügend Platz bot. Sollte Francis doch schlafen, wo er wollte. Sie ließ ihn sich aufs Bett legen und der gehorchte widerstandslos. Er wirkte abwesend, nicht ganz bei sich, aber Esmeralda konnte keine Kopfwunde oder ähnliches ausmachen. Es war wohl einfach der Schock, der ihn schweigen ließ.
Sie wusch seinen Rücken und betupfte die offenen Stellen mit Alkohol aus ihrer Arztkiste. Er hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und gab ab und zu zischende Geräusche von sich. Es war nicht so schlimm, wie es im ersten Moment ausgesehen hatte. Francis war heftig, aber sehr kontrolliert gewesen. Jesses verschwitzter Haarschopf bewegte sich leicht, als er den Kopf auf die andere Seite drehte. Sie hätte schwören können, dass es auf seinen Wangen feucht geglitzert hatte, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Tapferer Idiot.
„Du spielst mit dem Feuer, Dawson."
„Ich weiß, ich weiß."

Dann stand Francis in der Tür. Sein Blick klebte sofort am Rücken seines Freundes, das Gesicht ausdruckslos und die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Auf dem Arm trug er einige Bahnen weißes Leinen, genau das, was ihr noch fehlte. Sie winkte ihn näher und gemeinsam begannen sie, Jesses Wunden zu verbinden. Sie sprachen beide kaum, als sie sich gegenseitig die benötigten Dinge reichten und Francis zerriss den Stoff mit mehr Vehemenz in Streifen, als es nötig gewesen wäre. Als sie schließlich ihre Sachen zusammenpackte und die Kajüte verließ, hatte er kaum ein Wort es Abschieds.
Francis blieb zurück. Er saß bei Jesse auf dem Bett und hatte eine Hand ganz vorsichtig auf dessen Rücken gelegt. Die Verbände fühlten sich rauh an unter der empfindlichen Haut seiner Handflächen. Die Peitsche hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen, als er...
Das habe ich getan. Oh Gott, das ist mein Werk.
Er führte Jesses verkrampfte Muskeln unter seinen Händen. Er wollte ihn trösten, er wollte sich selbst trösten. Er war die einzige Möglichkeit gewesen, wenn sie hier als Crew und halb sanktionierte Freibeuter eine Chance haben wollten. Und ja, er war ja eigentlich selbst schuld. Trotzdem tat es weh. Tapferer Idiot. Wie von selbst fanden seine Hände ihren Weg über diesen Körper, den er doch so gut kannte. Zuerst versuchte Jesse, sich zu entziehen, aber dann entspannte er sich unter seinen Berührungen. Francis fuhr tiefer, jenseits der Verbände, streichelte zarte über Jesses Beine und dessen Hintern, verlor sich in diesem Gefühl von weicher, unverletzter Haut. Und Jesse reagierte, wie er es immer getan hatte, ein heiser drängender Ton kam aus seiner Kehle.
Bis er wieder erstarrte. Er stemmte sich auf die Ellbogen hoch und unterdrückte ein schmerzerfülltes Aufstöhnen. In seinen eigenen Augen lag so viel. Sehnsucht, verletzter Stolz und schließlich Wut. Eine dunkle Wolke, die seine Miene verdüsterte und aus seiner Stimme ein Fauchen machte.
„Du hast getan, was du tun musstest. Und du hast deine Sache bestimmt sehr gute gemacht. Aber ich lasse mich doch nicht von dem Mann anfassen, der mich gerade geschlagen hat. Verschwinde, Käpt'n. Nimm deinen dämlichen Stolz mit und deine sinnlosen Erklärungen. Ich habe genug davon."
Und dann, mit einer Stimme, die nicht zitterte, die so leise und kalt klang, als käme sie vom Grund des Ozeans.
„Ich habe genug von dir."

Einmal um die Welt (Piratenblut 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt