Eis

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Jesse blieb nicht lange Gast in der Kajüte des Kapitäns. Sobald die Wirkung des Schlafmittels, dass Esmeralda ihm offensichtlich gegeben hatte, abgeklungen war, war er wieder auf den Beinen. Er konnte diesen Raum nicht mehr ertragen, dieses Bett und vor allem den Geruch, der noch in den Laken hing. Aufsetzen funktionierte prima, bis er auf seinen eigenen zwei Beinen stehen musste. Er schob den Schwindel und die leichte Übelkeit aber sofort auf Esmeralda und zog sich mit grimmiger Entschlossenheit sein Hemd über den Kopf. Sie hatte seinen Oberkörper fest mit Bandagen umwickelt und die Bewegungen fielen ihm etwas schwer. Sei's drum er würde nicht hierbleiben. Er würde keine Schwäche zeigen. Er hatte zu tun.
Als er die Tür hinter sich schloss und in die warme Nachmittagssonne hinaustrat, wandten sich ein paar Köpfe in seine Richtung. Er nahm die eine oder andere hochgezogene Augenbraue wahr, aber die meisten schienen erleichtert, ihn wieder auf den Beinen zu sehen. Seine Augen huschten ganz automatisch über das Deck und als sein Gehirn merkte, wen er da suchte, schüttelte er den Kopf.
Nein, nein. Er wusste noch nicht einmal, was er zu ihm sagen sollte. Er wusste noch nicht einmal, ob er noch wütend war. Oder enttäuscht, oder verletzt. Ihm war klar, dass er  selbst einen großen Anteil an dieser Eskalation hatte, aber manchmal waren die Dinge nicht mehr aufzuhalten, wenn sie erst einmal ins Rollen geraten waren.
Nachdem sie immer noch im Hafen lagen, gab es an Bord nicht allzuviel zu tun. Hier und da wurde etwas ausgebessert, die Vorräte aufgestockt und das Schiff generell ein bisschen auf Vordermann gebracht. Nicht viel, dass würden sie vor allem in Tortuga tun, wenn diese Angelegenheiten der Bürokratie endlich erledigt waren. Soweit Jesse wusste, waren sie jetzt wieder offizielle englische Freibeuter, ein Status, der durchaus Grund für gute Laune bot.
Es war so lange her. Bevor sie auf diese gottverdammte Mission ins englische Mutterland aufgebrochen waren, war es sein nettes Leben gewesen. Unter dieser warmen Sonne, mit einer Handelsflotte, die immer damit rechnete, Schiffe und Ladung zu verlieren und deshalb ihre Missetaten nicht allzu konsequent verfolgte. Und natürlich er selbst und der Käpt'n, der gerade entdeckt hatte, dass das Gras auf der anderen Seite grüner und saftiger war, als er es sich vorstellen konnte. Du meine Güte, wie lange hatte es gedauert, bis er seine Scheu überwunden hatte. Und wie schnell und begierig er daraufhin gelernt hatte.
Auf seiner kleinen Inspektionstour begegneten ihm immer Crewmitglieder, die ein paar kurze Worte mit ihm wechseln wollen, ihm irgendetwas Wichtiges mitteilen mussten oder scheinbar einfach nur nach ihm sehen wollten. Das rief über kurz oder lang natürlich die inoffizielle Schiffsärztin auf den Plan.
„Hey, Dawson! Habe ich dir erlaubt aufzustehen?"
„Hey Hexe! Brauche ich deine Zustimmung dafür?"
Sie schmunzelte. „Nein, natürlich nicht. Lässt du mich sehen?"
Sie hatte ihn am Ärmel gepackt und ein Stück zur Seite gezogen. „Lass mich kurz den Verband wechseln, dann bist du wieder frei wie der Wind. Obwohl ich mir jetzt nicht vorstellen kann, dass irgendjemand heute viel von dir erwartet. Dank dir sind wir schließlich jetzt Piraten im Dienste der Krone. Oder zumindest mit deren Zustimmung. Aye!"
„Wohl eher trotz mir. Ich komme immer noch nicht drüber weg, wie dumm ich war."
„Das macht dir hier niemand zum Vorwurf, Jesse."
„Ja?" Er seufzte. „Nicht gerade meine Glanzstunde. Und es gibt wenige Dinge, die meine eigene Autorität mehr beschädigen können, als..." Er wedelte Richtung Mast, entschloss sich aber dann doch, deutlicher zu werden.
„Hör zu, Esmeralda. Die Disziplin auf meinem Schiff ist meine Aufgabe. Wenn ich diese Disziplin selbst nicht mehr aufbringe, wenn ich wegen persönlicher Verwicklungen meine Pflicht nicht mehr erfüllen kann und dem Kapitän so in den Rücken falle und zu Recht unter seiner Peitsche ende... Es nicht um Vorwürfe, es geht nicht um diesen dämlichen Ausbruch. Es geht darum, dass die komplette Crew mit angesehen hat, wie Francis mich an diesen verdammten Mast gestellt hat. Den zweiten Mann auf diesem Schiff, den Mann, der die Strafen normalerweise austeilt, nicht einsteckt. Ich weiß, es war das geringere von vielen Übeln, Sir Campbell hätte mich am liebsten hängen lassen. Aber auch wenn er nicht gewesen wäre, Esmeralda, er hätte das nicht so stehen lassen können. Himmel, ob ich jetzt betrunken war oder nicht, das kam fast einer Meuterei gleich. Er hätte jedes Recht gehabt, nicht aufzuhören. Mir eine Hand zu nehmen, das andere Auge, oder..."
Sie hatte die Hand gehoben und versuchte ihn zu stoppen, aber Jesse brachte sie mit einer knappen Bewegung zum Schweigen.
„Das einzige, was meine Haut gerettet hat, war die bloße Tatsache, dass ich ihm nachts das Bett wärme. Aber damit ist jetzt Schluss."

„Womit ist jetzt Schluss?"
Beim Klang dieser Stimme fuhr Jesse wie vom Blitz getroffen zusammen. Esmeralda sah ihn an und formte die Worte: Siehst du?!
Oh nein. Nicht jetzt. Bitte nicht. Jesse hatte sich tatsächlich ein bisschen in Rage geredet. Eine Mischung aus Wut und Selbstkritik, die ihn mitgerissen hatte.
„Jesse? Antworte mir."
„Das war nicht für deine Ohren bestimmt."
Esmeralda konnte die Mauer zwischen den beiden fast spüren. Eine Mauer aus Ohnmacht, Zurückweisung und Schweigen. Jeder Moment für sich nur ein kleiner Stein, aber zusammen fast unüberwindbar.
„Und was ist für meine Ohren bestimmt?"
Francis war näher getreten, hatte die zögernd die Hand nach ihm ausgestreckt, ein Flehen im Blick.
„So funktioniert das nicht, Francis." Die Hand hatte sich um seinen Oberarm geschlossen und begann ihn jetzt vorsichtig umzudrehen. Jesse schluckte, fühlte seinen Widerstand zerbröckeln wie trockene Erde in der Sonne. Und dann sagte Francis das einzig Falsche, was er hätte von sich geben können.
„Ich lasse dich nicht gehen, Jesse."
Er fuhr mit einem Aufschrei herum und stieß Francis von sich. Diesmal nicht. Diesmal würde keiner weglaufen.
„Das ist genau dein Problem, Käpt'n."
Francis erschrak vor dieser kalten Stimme, vor der Wut in diesem Gesicht. Was hatte er denn jetzt schon wieder falsch gemacht?
„Ich will dich nicht verlieren, Jesse. Ich weiß, es ist kompliziert und schwierig und es tut mir leid, aber..."
„Hör auf."
Die Worte waren leise, brachten Francis aber sehr effektiv zum Schweigen.
„Hör auf, dich ständig zu entschuldigen. Hör auf wegzulaufen. Hör auf, mir zu sagen, was ich tun soll. Ich  bin geduldig, weißt du. Ich verstehe, dass du Probleme hast. Ich verstehe, dass du Angst hast. Nein, sieh mich nicht so an. Du hast Angst mir zu vertrauen. Vor deiner eigenen Reaktion, wenn du die Kontrolle aufgibst. Deshalb klammerst du dich an diese Kontrolle, denn solange du die absolute Macht hast, wird nichts Unvorhergesehenes passieren, auf das du reagieren musst, dann kann dir niemand weh tun. Aber das steigt dir langsam zu Kopf, mein Lieber. Aus deinem Selbstschutz ist ein Wahn geworden. Du kannst mich nicht kontrollieren, Francis. Was ich tue, tue ich, weil ich es will. Ich! Nicht du!"
Jesse atmete tief durch, ließ aber Francis keine Gelegenheit, ihn zu unterbrechen.
„Nein. Zuhören. Gut zuhören. Ich würde niemals etwas tun, was du nicht willst. Wenn ich dich jemals wieder, wenn ich jemals wieder...  wenn du... ach verdammt, Francis."
Seine Stimme wurde wieder leiser, dunkler und Francis spürte, wie ernst es ihm war.
„Du wirst darum betteln, Francis. Du wirst mich anflehen. Du wirst dich freiwillig in meine Hände begeben, in mein Bett, in dein Bett, wo auch immer. Aber glaub mir, du wirst es genießen. Weil du es willst. Dann und nur dann! Ich bin nicht Karvanté!"
Jetzt war es ausgesprochen. Francis schwieg geschockt. Und langsam regte sich der Zorn in ihm. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein?
„Ja, nun reagier endlich. Du kannst mich nicht kontrollieren, Francis. Glaub das niemals, nicht für einen Moment. Esmeralda?"
„Ja, ich höre. Und ich bin ganz auf deiner Seite."
„Das ist kein Angriff auf die Autorität des Kapitäns, keine Kritik an seinen Methoden und um Himmels willen keine Meuterei."
„Bitte?!"
„Du bist meine Zeugin, das hier ist rein persönlich."
„Was?" Francis wusste nicht wohin mit seinem verletzten Stolz und dem roten Flackern in seinem Bauch. Er ballte die Fäuste, ohne so recht zu wissen, auf was oder wen er eigentlich wütend war. Jesse? Karvanté? Sich selbst?
„Vorsicht, Jesse... Fordere mich nicht heraus."
„Das gefällt dir gar nicht, nicht wahr?" Jesse grinste. „Das hier wollte ich schon so lange tun. Na los, wehr dich!"
Und mit diesen Worten stürzte er sich auf seinen Kapitän. Eine Prügelei? Das war die Lösung für alle Probleme? Esmeralda traute ihren Augen kaum und soweit sie das beurteilen konnte, sah das nicht nach einem Spiel aus. Jesse hatte mit einem Fausthieb eröffnet, aber Francis hatte schnell genug reagiert, um der schlimmsten Wucht auszuweichen. Der zweite saß besser und Francis klappte zusammen, die Arme um den Bauch geschlungen.
„Jesse, was glaubst du, tust du da?"
„Ich habe keine Angst vor deiner Wut, Käpt'n. Na los, lass es raus."
Francis knurrte. „Rein persönlich, ja?"
„Absolut. Oh mein Kapitän."
„Und wenn ich nicht will?"
„Dann werde ich dich quer über dieses Schiff prügeln, wenn es sein muss. Ich habe dein Zögern so satt, deine Vorsicht widert mich an. Dieser wütende Schatten, das bist nicht du. Nicht alles von dir. Die einzigen Momente, in denen du halbwegs entspannt bist, sind im Bett mit mir. Und selbst da nur, solange du das Geschehen dominierst. Versteh mich nicht falsch, ich mag das, das weißt du. Wenn ich es nicht mögen würde, hättest du keine Gelegenheit dazu. Aber..."
Jetzt musste er seine Gedanken sortieren, in Worte zu fassen, was ihm seit Wochen in der Seele weh tat.
„Das reicht nicht. Ich will dich, Francis. Nicht nur das, was Karvanté übrig gelassen hat. Vor den anderen magst du das verstecken können, aber nicht vor mir. Du bist im Geist doch immer noch in diesem Kerker. Komm da raus, hör auf davonzulaufen. Wehr dich!"
Wieder stieß er ihn vor die Brust und Francis stolperte einen Schritt zurück.
„Jesse, ich will dich nicht verletzen."
„Mein lieber Käpt'n, dafür ist es bereits zu spät."
Er holte wieder aus, aber diesmal war Francis schneller. Er ließ die Wut wie eine Welle über sich waschen, versuchte nicht mehr, sich ihr zu entziehen. Er kapitulierte aber auch nicht vor der Raserei in seinem Blut, sondern benutzte sie... und fühlte sich auf einmal wieder lebendig. Die Welt verschwamm nicht mehr vor seinen Augen, sie wurde klar und ruhig. Er schlug Jesses Arm zur Seite.
„Du weißt, du bist im Nachteil, ja?"
„Wegen der Klappe?" Jesse hob eine Hand zu seinem Gesicht. „Keine Sorge. Ich kämpfe einfach dreckiger."
Und das tat er auch. Er duckte sich unter Francis Arm und trat ihm zwischen die Beine. Es war ein Versuch, aber der Käpt'n wich rechtzeitig aus und stürzte sich dann mit einem heiseren Schrei endgültig in diesen Kampf.

Einmal um die Welt (Piratenblut 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt