Willkommen zu Hause

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Der Morgen graute, als sie in die Bucht einliefen. Die rote Flagge flatterte über den schwarzen Segeln deutlich sichtbar über dem leichten Nebel, der auf dem Wasser lag. Trotz der frühen Stunde waren sie fast alle wach, Matthew winkte vom Mastkorb aus den Wachtposten in den beiden Türmen zu, die links und rechts vom Hafen gebaut worden waren, um die See zu überblicken und unliebsame Gäste zu melden. Er hielt eine weitere rote Fahne in der Hand und signalisierte, dass sie in Frieden kamen und wussten, was sie hier erwartete.
Francis hielt sich nicht mit Formalitäten auf, er steuerte direkt auf die Anlegestellen am Kai zu und ließ die Dragon sanft auf einen freien Platz gleiten. Die feuchte Luft dämpfte die Geräusche und als sie die Planke über die Kaimauer schoben, hallte es leise nach. Ihr Eintreffen war nicht unbemerkt geblieben, am Ende des Steges wartete eine bewaffnete Abordnung darauf, sie in Empfang zu nehmen. Im Laufschritt kam gerade noch ein Mann um die Ecke gebogen, ein Buch unter den Arm geklemmt, die andere Hand fest auf seinen Hut gepresst.
Etwas zögerlich bewegte sich die Eskorte auf das Schiff zu und machte am Ende der Planke halt. Der Mann mit dem Buch räusperte sich, seine Stimme klang klar durch die Morgenluft.
„Machen wir es kurz. Wer seid ihr und was wollte ihr hier?"
Die Antwort kam sofort und mit ihr zwei traten zwei Gestalten hintereinander über  den hölzernen Zugang auf den Steg.
„Schön, dass sich manche Dinge nicht ändern. Thomas, du brauchst immer noch einen neuen Hut und die Bewachung hier soll wohl ein Scherz sein. Schlafen die anderen immer noch ihren Rausch aus?"
Dem Angesprochenen fiel beinahe die Kinnlade herunter, als er die beiden Männer erkannte.
„Und sag jetzt nicht, dass du mein Schiff nicht erkannt hast?"
„Francis Drake? Käpt'n Francis Drake?!"
Der Rest der Begrüßung verlor sich in wildem Gelächter, gegenseitigem Schulterklopfen, ein paar großen Gesten und dem festen Versprechen sich alsbald in der Taverne einzufinden, für ein ordentliches Essen und eine lange Geschichte.

Als die Sonne höher kletterte, leerte sich das Schiff langsam, als sich die aufgeregten Männer unter die erwachenden Bewohner der kleinen Stadt mischten. „Wie kleine Kinder," dachte Esmeralda, „die zum Spielen raus dürfen."
Auch Jesse und Francis waren bereit, von Bord zu gehen. Der eine wieder im Kapitänsmantel mit dem schwarzen Dreispitz auf dem Kopf, der andere etwas weniger edel, aber mit seiner neuen Errungenschaft, einer dunkelbraunen Lederweste, bekleidet. Mit dem Verlust seines Auges und der damit verminderten Reaktionsgeschwindigkeit hatte er sich diesen zusätzlichen Schutz angewöhnt. Einem direkten Säbelhieb würde das Material nicht standhalten, aber sie hatte ihm bei seitlichen Treffern schon gute Dienste geleistet. Esmeralda trug schwarz, ein langes Kleid und einen dunkelblauen Kapuzenmantel, der ihre schwarzen Locken verbarg. Ihr war ein wenig mulmig zumute und sie hatte das Gefühl diese Schicht zwischen sich und der dieser unbekannten Welt da draußen zu brauchen
Der kleine Ort wirkte recht sauber, zumindest wenn man bedachte, dass es sich um ein gesetzloses Piratennest handelte. Scheinbar gab es aber doch jemanden, der sich hier um Recht und Ordnung kümmerte, und er kleinen Stadt tatsächlich einen Hauch von Gemütlichkeit verlieh. Wenn man die hier und da im Schatten schnarchenden Betrunkenen übersehen konnte. Immer noch? Oder schon wieder? Esmeralda wollte gar nicht genauer darüber nachdenken. Ihren eigenen Säbel an der Seite und die Kapuze trotz der aufsteigenden Hitze tief ins Gesicht gezogen, folgte sie Kapitän Drake durch die Straßen und blickte sich immer wieder staunend um.

Zu Hause. Francis schritt durch die Gassen, als würden sie ihm gehören. Und in gewisser Weise taten sie das auch. Er war auch sein Gold gewesen, das den Aufbau dieser Stadt vorangetrieben hatte und es freute ihn zu sehen, dass sie in seiner Abwesenheit weiter gewachsen war. Immer noch namenlos trug der Ort die Bezeichnung der Insel – Tortuga. Die große Schildkröte, die unter ihrem harten Panzer eine ganze Horde wilder Gesellen verbergen konnte und immer noch friedlich im Meer lag. Hier und nur hier schienen sich Freibeuter, Mörder und anderes Gesindel in Frieden zusammenzufinden. Zum Trinken, Herumhuren und gelegentlich auch, um sinnvolle Aktionen und gewinnbringende Beutezüge zu planen. Der Preis der Freiheit war eine gewisse Kompromissbereitschaft. Zusammen konnten sie überleben, alleine war es ein Überlebenskampf. Das war vor allem den Frauen auf der Insel zu verdanken. Einige waren sicher genauso ungehobelt und gefährlich wie ihre männlichen Kollegen, aber in der Regel waren die Damen Tortugas vernünftig, klug und auf Reichtum aus.
Francis nickte im Vorbeigehen einer blonden Frau zu, die gerade aus dem Haus ihres Vaters trat, einen vollen Korb in den Armen, wohl auf dem Weg zum Waschhaus. Er tippte sich an den Hut und lächelte. Du meine Güte, dieses Mädchen war erwachsen geworden Er konnte nicht mehr sehen, wie sie sich ruckartig umwandte und ihr beinahe die Wäsche aus dem Arm fiel, die Wangen rot, die Augen ungläubig aufgerissen. Drake? Hier?
Auch Jesse war mehr als zufrieden. Saubere Kleidung, Stiefel, ein frischer Haarschnitt, an seiner Seite ein Kapitän, der vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, so hatte er sich seine Rückkehr vorgestellt. Das diese Einstellung mehr Show als Wahrheit war, wollte er für den Moment vergessen. Die Nacht war so ruhig gewesen, der Morgen danach wieder angespannt und voller unausgesprochener Fragen. Zeit, sagte er sich immer wieder, Zeit und Ruhe...
Die Weste schmiegte sich über seinem Hemd an ihn wie eine zweite Haut, war aber vorne offen, um ein bisschen Luft an seinen Körper zu lassen. Die roten Striemen auf seinem Rücken waren gut verhüllt und solange er die Arme nicht über den Kopf hob oder sich zu fest gegen eine Wand lehnte, spürte er sie auch nicht mehr.
Ihr Ziel war ein Gasthaus im Zentrum, „Gallons" genannt und genau der richtige Platz, um sich umzusehen, Informationen einzuholen und gut zu essen. Genau das richtige für hungrige Piraten, die lange unterwegs gewesen waren. Viel zu lange.

Einmal um die Welt (Piratenblut 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt