Die Überfahrt verlief erstaunlich glatt. All das Planen und Rechnen schien sich gelohnt zu haben. Das Schiff war in bestem Zustand, ausgestattet mit genug Vorräten und Material für mögliche Reparaturen auf See. Das Ruder war verstärkt worden, die Takelage auf noch die kleinste Schwachstelle überprüft. Die Männer waren hochmotiviert.
Eigentlich hätte alles glatt gehen müssen, wenn da nicht die Spannungen zwischen ihrem Führungsduo gewesen wären, die mit jeder Woche greifbarer wurden. Esmeralda sah sich mehr und mehr gezwungen, Jesses Aufgaben mit zu übernehmen, weil seine Gedanken nicht immer da waren, wo sie hätten sein sollen. Gelegentlich drangen laute und sehr deutliche Worte aus der Kapitänskajüte, an andern Tagen herrschte eine eisige Stille. Esmeralda wusste nicht, was schlimmer war. Der sonst so ruhige erste Maat verlor auch an Deck immer häufiger die Geduld und warf sich abends viel zu früh in seine Hängematte, ohne vorher mit der Mannschaft gegessen zu haben, wie es eigentlich zu seinen Aufgaben gehörte.
Francis war dagegen fast angenehm. Er genoss die Fahrt sichtlich, das Wetter, den Wind, die Herausforderung an seine Fähigkeiten, das belebte ihn ungemein. Er war nicht nur der Kapitän, sondern in der Regel auch der Navigator der Dragon und seine Fertigkeiten würden sie hoffentlich sicher ans Ziel bringen. Dass sein Freund derzeit so schwierig war, nun das würde sich schon wieder geben, wenn sie erst zu Hause waren. Zu Hause. Es fühlte sich seltsam an, daran zu denken. Es waren nur ein paar Jahre, aber er war – älter geworden. Aus einem erfolgsverwöhnten jungen Kapitän war ein deutlich ernüchterter Mann geworden. Er hatte viel verloren in diesen Jahren. Wer konnte schon wissen, was sie zurück auf den Inseln erwarten würde? Vielleicht hatte sich diese Welt auch so sehr geändert, vielleicht würde er sie nicht wiedererkennen. Oder sie ihn.
Nun, offiziell war er immer noch tot. Die Reaktion auf seine Wiederauferstehung war mit Sicherheit sehenswert. Doch vorher brauchten sie Verbündete. Die nahe liegendste Wahl war, es wieder bei den Engländern zu versuchen. Trotz aller Differenzen reichten Haftbefehle nicht so weit und Francis hatte keine Lust, von wirklich jedem patroullierendem Kriegsschiff versenkt werden zu dürfen. Er die Spanier und Franzosen früher mit viel Erfolg, und dem Segen seiner eigenen Landsleute, durch die westindischen Inseln gejagt, er würde es einfach wieder versuchen.
Wer auch immer gerade der Gouverneur Jamaicas war würde das sicher genauso sehen. Und wenn diese Formalitäten geklärt waren, würden sie mit Glanz und Gloria nach Tortuga heimkehren oder das war zumindest der Plan. Je näher sie kamen, desto deutlicher vermisste er diese Insel und die Menschen, die er damals zurückgelassen hatte. Sie hatten ihn gewarnt vor seiner Reise und seinem Vorhaben, aber er hatte Ratschläge ja noch nie wirklich gerne befolgt.
Und dann gab es noch die Fehler, der er selbst jetzt noch machte. Dinge, die er sich im Nachhinein nicht erklären konnte. Momente, in denen er einfach vergessen wollte und nur noch im Augenblick leben. Auch wenn sein Verstand es doch so viel besser wusste.„Nein. Lass mich los, Francis."
„Ach komm schon, ich weiß doch, dass du das magst."
Eine zupackende Hand, die zurück geschlagen wurde. Ein Körper, der sich unter ihm wehrte, und seinen Jagdinstinkt nur noch mehr anstachelte. Er packte fester zu wurde mit einem Aufschrei belohnt. Na also...
„Ein letztes Mal, lass mich los."
Francis hatte längst aufgehört ihm zuzuhören. Er wollte diesen Mann und er wollte ihn jetzt und nichts würde ihn davon mehr abhalten.
Fast nichts. Kalter Stahl war eine Ausnahme. Die Stimme, die ihn begleitet, war noch kälter.
„Ich habe nein gesagt."Francis beugte sich über die Karte, maß Entfernungen, markierte ihre derzeitige Position. Er unterstrich seine Worte mit seinen Händen, erklärte, gestikulierte und Jesse hatte größte Mühe, dem Geschehen zu folgen.
„Und wenn wir diesem Kurs folgen und versuchen, die Spitze in einem Tag zu umsegeln, sollten wir... Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?"
Jesse rieb sich die Augen und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
„Ja, ja doch. Es war nur ein verdammt langer Tag. Können deine genialen Pläne nicht bis morgen warten. Bitte?"
Francis legte den Zirkel weg und sah auf. „Bist du so müde?"
„Ja. Nein. Ich glaube, ich brauche einfach nur ein wenig Ruhe und du bist gerade sehr anstrengend."
Der Käpt'n grinste. „Ja, ich weiß. Aber es tut gut, wieder eine Aufgabe zu haben, oder?"
Er schritt zu einem Schrank, holte zwei Gläser und eine bauchige Flasche einer goldbraunen schimmernden Flüssigkeit hervor. „Setz dich."
Jesse ließ sich stöhnend auf einen der Stühle nieder. „Ich würde jetzt wirklich lieber..."
„Nichts da." Francis stellt die Gläser auf den Tisch und begann sie zu füllen.
„Wir hatten gerade so etwas wie eine Einsatzbesprechung, auch wenn du davon nur die Hälfte mitbekommen hast. Das hier ist auch kein billiger Fusel, das ist der beste Brandy, den du auf diesem Schiff bekommen wirst."
Jesse ergab sich in sein Schicksal. „Na dann. Auf die Rückeroberung der Inseln."
Er hob sein Glas. Francis stieß mit dem seinen leicht dagegen.
„Auf das. Und auf uns."
Das kam plötzlich und Jesse wusste nichts darauf zu erwidern. „Auf uns."
Sie tranken beide und es blieb für eine Weile still. Francis räusperte sich, sah sich um, als ob das Mobiliar ihm eine Eingebung schenken konnte. Dann gab er auf uns sah Jesse zögernd in die Augen.
„Bitte, bleib heute Nacht hier, Jesse."
Der schloss die Augen und seufzte tief. Warum war das alles nur so schwierig geworden?
„Francis..."
„Du weißt, das ich das nicht gewollt habe, oder?"
„Was? Betrunken über mich herfallen? Mir Sachen an den Kopf werfen, die ich nicht wiederholen werde? Ein Nein erst dann zu akzeptieren, wenn du ein Messer an der Kehle hast?"
Er stellte das Glas mit mehr Vehemenz ab, als nötig gewesen wäre und ein wenig von der braunen Flüssigkeit schwappte über den Rand. Die Wut war wieder da und er hatte nicht die Absicht, sich von Francis einwickeln zu lassen. Er stand auf, baute sich vor seinem Kapitän auf und riss ihn dann ganz plötzlich in seine Arme. Der Kuss war hart, er hielt Francis Gesicht fest in den Händen und zwang ihm ihm seine Zunge in den Mund. Er spürte, wie Francis zurückzuckte, so wie er das jetzt immer tat, sobald Jesse die Kontrolle übernahm. Dann gab er ihn frei und trat schwer atmend einen Schritt zurück.
„Mein Herz wird immer dir gehören, Francis. Aber du kannst nicht ewig vor mir davonlaufen."
Er trat wieder dichter an ihn heran, spürte die Wärme, die ihm entgegenschlug, die versuchte seinen Widerstand zu brechen.
„Ich bin nicht deine Hure, Käpt'n."
Dann drehte er sich um, ging zur Tür hinaus und zwang sich mit äußerster Selbstbeherrschung, nicht zurück zu sehen. Hinter ihm hörte er Glas zerbersten, als ihre Trinkgefäße samt Inhalt auf den Boden gefegt wurden.

DU LIEST GERADE
Einmal um die Welt (Piratenblut 2)
AventuraFrancis, Jesse und Esmeralda auf dem Weg in die Freiheit. Wo schon eine sehr spezielle Freundin, ein fast vergessenes Versprechen, jede Menge Wein und Gesang und ein gut versteckter Lieblingsfeind warten. Das ist die Fortsetzung von "Piratenblut": ...