Zwiegespräch

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"Glaubst du, wir werden ihn finden?"
Jesse stand am Steuer. Es wurde langsam Abend, die Sonne berührte schon fast den Horizont. Esmeralda hatte sich ein Stück entfernt auf einer Treppe nieder gelassen. Sie hatten sich unterhalten, über diese Entscheidung, die nun getroffen war, und sie dort wohl erwarten würde. Irgendwie fiel es Esmeralda fiel leichter, diese Dinge mit Jesse zu besprechen als mit dem Kapitän. Das war wohl sein großes Talent und der Grund, warum die Crew so gut zusammenarbeitete. Sie hatten ihren Käpt'n, dem sie vertrauten und dem sie bedingungslos folgen würden und sie hatten ihren ersten Maat, der sich um all die kleinen Dinge kümmerte, die ein Schiff am laufen hielten. Er war einfacher zu erreichen und absolut verschwiegen, wenn sein Gegenüber das wünschte.
Und er dachte nach, bevor er antwortete.
„Ich weiß nicht, ob ich mir das wünschen soll."
„Hm." Esmeralda legte den Kopf auf die verschränkten Arme. „Weiß nicht."
„Mal ganz ehrlich, was würdest du denn tun, wenn er plötzlich vor dir stehen würde? Ihm sofort ein Messer ins Herz stoßen? Das glaube ich nicht."
„Hm..."
„Und nein, auch wenn du mir jetzt im Detail erzählst, wie du ihn auseinander nehmen würdest, du mit deinem..." er wedelte vage mit der Hand „Assassinenwissen. Ich glaube nicht, dass das dein erster Gedanke wäre. Du würdest mit ihm reden wollen, Esmeralda. Du willst wissen, warum. Wieso er getan hat, was er getan hat. Was er dir angetan hat. Alles andere, Francis, ich, wir sind doch nur zweitrangig. Und überhaupt, er weiß doch gar nicht, was DU getan hast, oder? Du könntest ihm als seine Tochter gegenübertreten, wie du das immer warst. Ich glaube, Francis rechnet sogar ein bisschen damit. Mit deiner Zusammenarbeit, meine ich."
„Ja, natürlich. Also ja natürlich helfe ich ihm. Schließlich ist es auch in meinem Sinne."
„Warum?"
„Was?"
„Warum hast du uns geholfen? Das war nicht ungefährlich, du hast viel riskiert und viel zurückgelassen. Warum, Esmeralda?"
Jetzt zögerte sie. Versuchte, es sich selbst zu erklären.
„Als ich von meinem letzten Auftrag nach Hause gegangen bin, da habe ich euch gesehen, also vor allem Francis. Der Karren fuhr durch die Straßen und ich stand irgendwo in der Menge. Wir haben uns angesehen, einen Moment nur..."
„Du willst mir jetzt doch nicht sagen, dass du dich in diesem Augenblick unsterblich in ihn verliebt hast? Esmeralda..."
Sie schüttelte den Kopf. Bildete sie es sich nur ein oder war seine Stimme eine Spur schärfer geworden?
„Nein, natürlich nicht. Nicht jeder verfällt deinem Käpt'n sofort, auch wenn du das vermutlich nicht nachvollziehen kannst."
Jesse machte ein unanständiges Geräusch mit seinen Lippen. Er wollte etwas erwidern, beließ es dann aber doch bei einem belustigten Hochziehen seiner Augenbrauen.
„Ich habe einfach genug davon. Mein Leben lang war ich das, was er wollte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich je eine eigene freie Entscheidung getroffen habe. Ich musste einfach weg von ihm, weg aus Frankreich, weg von... mir? Ich muss selber herausfinden, wer ich bin, Jesse. Nur ich."
„Morrigan."
„Wie bitte?"
„So nennst du dich doch, oder? Beruflich."
„Ja, aber..."
„Diesen Namen hast du selbst gewählt. Er ist auch ein Teil von dir. Vergiss das nicht, vergiss deine Vergangenheit nicht. Das bist auch du. Ich glaube eigentlich nicht, dass du dich so manipulieren lässt. Du bist stärker als du denkst, Esmeralda."
„Hm."
„Und vermutlich viel zu stur, um mir auch nur zuzuhören."
In diesem Moment kam Jesses Ablöse um die Ecke gebogen. Es war dunkel geworden, wenn auch nicht wirklich kalt. Morgen würden sie ihren letzten Hafen auf diesem gottverdammten Kontinent anlaufen und alles an Bord nehmen, was sie noch für die Überfahrt brauchen würden. Die Dragon war eigentlich nicht für eine Atlantiküberquerung gebaut worden. Sie war vor allem schnell und wendig, aber sie hatte die Reise schon einmal geschafft. Mit ein paar kleinen baulichen Änderungen würde sie das wieder tun.
Jesse gähnte und sah sich nach Esmeralda um. „Möchtest du etwas essen?"
„Ja, gerne." Sie stand auf. „Wo ist denn unser Käpt'n?"
„Keine Ahnung. Was Kapitäne so tun. Kommandieren, oder so."
„Suchst du ihn gar nicht?"
„Vertrau mir." Jesse grinste. „Er wird mich finden."

Einmal um die Welt (Piratenblut 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt