Es geht los

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Heute ist es so weit.

Ein ganzes Schuljahr habe ich auf diesen Tag gewartet, mich danach gesehnt und davon geträumt. Mir die verschiedensten Notizen gemacht, was ich besorgen und einpacken muss, was ich meinen Verwandten mitbringen möchte, was ich vorhabe. Ich habe mir die schönsten Szenarien ausgemalt, in dem schönsten Land.

Oh, meine lieben Landsleute, kennt ihr dieses unbeschreibliche Heimatsgefühl wenn Ihr dort seid? Wenn Ihr endlich ausgelassen seid, frei von allen Problemen, wenn Ihr den albanischen Boden unter euren Füßen spürt?

Heute geht es endlich nach Kosovo.

Als ich aufwache, kribbelt es in meinem Bauch vor Freude und ich muss Grinsen.

Das Schuljahr war sehr stressig und ich kann immer noch nicht realisieren, dass ich es durchgehalten habe und heute belohnt werde.

In der Küche sitzen bereits meine Eltern, die in aller Ruhe frühstücken und etwas besprechen. Nachdem wir uns einen guten Morgen gewünscht haben, hole ich mir eine Banane und ein Glas Wasser und setze mich zu ihnen.

„Bist du schon aufgeregt, Zemer?", fragt meine Mutter mit einem müden Lächeln.

„Japp! Schon seit Mitte Juni, aber jetzt natürlich besonders!", antworte ich und mein Vater lacht.

„Drita ime", sagt er und strahlt.

Die Banane und das Glas sind schnell weg, jedoch bleibe ich trotzdem noch eine Weile sitzen und rede mit meinen Eltern. Da meine drei Geschwister noch schlafen, ist es einfach mal schön sich alleine mit ihnen unterhalten zu können. Meine jüngste Schwester Viola sorgt mit ihren 5 Jahren immer noch für ganz schön viel Arbeit und Geduld und so kommt es, dass ich als 16-Jährige, die nun immer selbstständiger wird, öfter mal hinten anstehen muss. Doch das macht mir nichts aus, wirklich. Manchmal ist es sogar von Vorteil, nicht im Mittelpunkt zu stehen.

Wir Geschwister verstehen uns untereinander prima. Je älter man wird, desto mehr respektiert man sich. Lorik, mein drei Jahre älterer Bruder und ich reden über alles und können jederzeit auf uns zählen. Mein anderer, jüngerer Bruder Arlind ist 11 und für sein Alter unglaublich reif und intelligent, weswegen es auch mit ihm extrem selten zu Auseinandersetzungen kommt. Und Viola ist einfach das Herzstück unserer Familie, wir alle tun etwas, damit aus ihr ein liebevolles höfliches Mädchen wird und bis jetzt scheint das wunderbar zu klappen.

Doch nun geht es erst einmal ab ins Badezimmer. Dort schaue ich kurz in den Spiegel, mir entweicht schon wieder ein kurzes Lächeln, und mache mich fertig. Da ich gestern Abend schon geduscht habe, geht das Ganze relativ schnell. Gesicht waschen, Zähne putzen, meine braune Mähne versuchen zu bändigen, etwas Creme auftragen und fertig bin ich. Genau als ich die Tür öffne, steht Lindi (*Arlinds Spitzname; Spricht man Linde mit Betonung auf das e aus*) vor mir und ich erschrecke mich.

„Oh Mann, hahaha.", lache ich und er steigt ein. „Entschuldigung, ich wollte gerade klopfen", sagt er aber kurz darauf und ich versichere ihm es sei nicht schlimm.

Im Flur treffe ich auch auf Lorik und wünsche ihm einen guten Morgen.
„Morgen, ähm.. hast Du mein weißes Hemd gesehen? Ich finde es irgendwie nicht mehr."

„Und das fällt dir am Tag unserer Abreise ein?", frage ich augenblicklich, jedoch ohne wütend oder genervt zu klingen. Es ist ja keine große Sache, doch Loriks Faulheit ist eins seiner stärker ausgeprägten Charaktereigenschaften.

„Es war noch in der Wäsche.. also?"

„Ich guck mal. Ich glaube, ich weiß wo es ist."

In unserer Wohnung gab es zwar genug Platz für uns alle, doch so groß war sie auch wieder nicht. Ich gehe also schnell ins Wohnzimmer und bemerke sofort einen Stapel mit gefalteten Oberteilen. Dass alle schon gebügelt wurden, muss ich nicht anmerken, und schon halte ich das weiße Hemd in den Händen.

Lorik bedankt sich erleichtert als ich es ihm gebe. „Ohne das Hemd wäre ich in Kosovo aufgeschmissen, haha."

Oh ja, das wäre er. Wir gehen nämlich fast jedes Jahr auf mindestens eine Hochzeit und dieses Jahr sind es sogar zwei. Die unseres Cousins Alban und einer sehr entfernten Verwandten namens Leonora.

Ich gehe in mein Zimmer und mache erst einmal mein Bett. Danach stecke ich das Ladekabel aus und lege es in meine Handtasche. Mein Outfit für die Fahrt habe ich schon gestern Abend rausgelegt und somit geht das Umziehen schnell. Ich entscheide mich wie so ziemlich jedes Jahr für eine schwarze Leggings und ein schlichtes Shirt, das ich mit einem dazu passenden Cardigan kombiniere. Obwohl es eigentlich unnötig ist, sich für die Fahrt zu schminken, kann ich trotzdem nicht widerstehen und tusche meine Wimpern, mache meine Augenbrauen und trage etwas Lipgloss auf. Meine hellbraunen Haare binde ich zu einem Zopf. Meine rehbraunen Augen sehen jetzt viel wacher aus und ich fühle mich noch aufgeladener.

Gerade als ich etwas Parfüm benutze, stürmt meine kleine Schwester in das Zimmer und grinst bis über beide Ohren. Auch sie freut sich unendlich.

„Naaaaa", sage ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

„Naaa", sagt sie und setzt sich auf mein frisch gemachtes Bett.

Ich stecke das Parfüm zusammen Deo und Makeupbag ebenfalls in die Tasche und gucke noch ein letztes Mal ob irgendwas fehlt.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass dem nicht so ist nehme ich Viola an der Hand und wir gehen nochmals in den Flur, wo bereits alle warten... Oder doch nicht? Wo sind mein Vater und Lorik?

„Er und dein Bruder bringen die Koffer zum Auto, Schatz.", meint meine Mutter. Gruselig, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Als Lorik wieder hochkommt um den letzten Koffer zu holen befehlt er uns mit runter zu kommen. Eifrig ziehe ich mir ein paar Nikes an und blicke ein letztes Mal in unsere Wohnung bevor ich als Letzte die Tür schließe. Bis in einem Monat, dachte ich mir. Und schon kam das Kribbeln wieder.

Es geht los.


Eliza und Blerim Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt