Kapitel 3: White Angel

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"Girls, you need to wake up!", rief Angela und schloss unsere Zimmertür wieder hinter sich.
Verschlafen rieb ich mir die Augen. Ich hatte geschlafen wie ein Stein. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah zu Nele, die unter mir lag. Sie hatte tatsächlich gar nicht oben schlafen wollen! Naja, ich lag gern im oberen Bett.
"Bist du wach?"
Keine Antwort.
"Hallo? Erde an Nele!"
Nichts.
Stöhnend rutschte ich über das Bett zu der kleinen Leiter und kletterte nach unten.
"Nele? Neeeleeeeeee!!!" Ich beugte mich über sie und kniff ihr in die Nase.
Ihre Augenlider flatterten kurz. Wie eine Fliege verscheuchte sie meine Hand von ihrer Nase, grummelte, drehte sich weg und schlief weiter.
Gut, dann musste ich wohl härtere Maßnahmen ergreifen. Ich ging ins Bad, holte einen Waschlappen und hielt ihn unter kaltes Wasser. Ein Gutes hatte Neles Tiefschlaf. Ich war jetzt immerhin richtig wach.
Mit dem kalten Waschlappen in der Hand trottete ich zu Nele zurück. Mit einem schmatzenden Geräusch drückte ich ihr das nasse Ding ins Gesicht.
"Iiiiiih", kreischte Nele los. Mit einem Ruck saß sie im Bett und starrte mich aus Schreckgeweiteten Augen an. "Was zum Teufel war das?"
Lachend warf ich den Waschlappen nach ihr.
"Boah, alter. Na warte, das kriegst du zurück!"
Ich flüchtete schnell ins Bad und als ich wieder rauskam, sah Nele eigentlich wieder ganz ruhig aus. Aber ich wusste, so einfach würde ich nicht davon kommen. Irgendwann, wenn ich nicht mehr daran dachte, würde sie sich rächen.

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Der Bus war mehr unser Zuhause als alles andere. Wir verbrachten zwei Stunden in dem vertrauten Gefährt, dann kamen wir in der Stadt an, die wir besichtigen wollten. Zu wollen hatten, denn wer nicht wollte, der musste.
Die Kathedrale, die die kleine Stadt so berühmt machte, ragte über die Dächer und streckte sich in den Himmel. Schon von weitem konnte ich sehen, wie kunstvolle kleine Säulen den Turm bildeten und die Spitze filigran ineinander geführt wurde.
Die Engel, die im Kirchenraum dargestellt waren, zogen mich fast magisch an. Während alle anderen sich goldene Kronleuchter, teure Gemälde und marmorne Altäre ansahen, stand ich von den Engeln.
Doch diese Engel gefielen mir nicht. Sie waren nicht wie mein Engel. Mein Engel war kein kleines, dickes Kind. Er war nicht nackt und er saß nicht sinnlos herum und spielte Harfe.
Mein Engel war groß. Er war stark. Er hatte Flügel, die mich ganz umhüllen konnten und die weißer waren als Schnee.
Mein Engel war schön. Und mein Engel beschützte mich und hielt zu mir. Auch wenn ich ihn seit damals nicht mehr gesehen hatte, er war da. Ich wusste einfach, dass er da war und mich vor Unglück bewahrte.
Herr Leopold kam neben mich und sah sich die kleinen weißen Engelstatuen ebenfalls an.
"Irgendwie stelle ich mir Engel anders vor."
Ich sah ihn von der Seite an. "Ja ich auch."
"Großer und stärker", ergänzte Herr Leopold, "aber wissen können wir es wohl nicht."
Doch. Ich wusste es. Aber das konnte ich ihm ja schlecht sagen. Er hätte es sowieso nicht geglaubt. Oder doch?
Ich sah mir Herr Leopolds Profil genauer an. Bis auf seine etwas große Nase sah er ziemlich perfekt aus.
Irgendwie wirkte er so, als würde er an mehr glauben, als nur das, was das Auge sieht. Oder als würde er zumindest nicht gleich alles als unmöglich abtun, auch wenn er nicht direkt daran glaubte.
Ja, vielleicht würde er mir tatsächlich zuhören und nicht lachen. Aber irgendwie war mein Engel ein Geheimnis geworden, das ich nicht mehr preisgeben wollte. Dieses Geheimnis gehörte zu mir, war ein Teil von mir. Ich konnte mich nicht an eine Zeit erinnern, in der ich dieses Geheimnis noch nicht gehabt hatte, denn die Erinnerung an den Engel war meine erste Erinnerung.
Und warscheinlich hätte Herr Leopold mich eh für verrückt erklärt. Wie alle anderen auch.
"Ich hoffe zumindest, dass es überhaupt Engel gibt. Egal welche. Die Vorstellung ist irgendwie einfach schön", fuhr Herr Leopold fort.
Ich hatte immer gewusst, dass da ein Engel war. Ich hatte es gewusst und es hatte mich oft verunsichert. Es hatte mich irritiert, manchmal auch wütend gemacht. Ich hatte mich beobachtet gefühlt. Hatte mich machtlos gefühlt. Aber vorallem hatte ich mich sicher gefühlt. Ich fühlte mich immernoch sicher. Ich vertraute meinem Engel.
Beinahe hätte ich das so Herr Leopold gesagt. Aber ich hielt mich zurück.
"Ja, ich hoffe es auch. Die Vorstellung, dass immer jemand da ist, der auf einen aufpasst, hat etwas beruhigendes." Ich trat noch einen Schritt auf die Baby-Engel zu.
"Aber auch etwas bedrückendes."
Ich nickte. Da hatte er wohl recht.
Ich drehte mich von den Engelchen weg und bewegte mich auf den Ausgang zu.

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