Kapitel 5: Fly

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Kliffwalk: was bei den meisten anderen einen Schrei der Empörung auslöste, war für mich pure Erlösung.
Ich hatte entschieden genug davon, in Städten rumzulaufen und shoppen zu gehen. Das war Mal ganz nett, aber ich wollte auch noch mehr von England sehen.
Sie rauen Klippen zogen mich wie magisch an. Es war dieses aufgeregte Kribbeln im Bauch, die Gefahr, die einem entgegenlächelte. Ich hatte keine Angst. Ich war deshalb nicht unvorsichtig, aber die Höhe, die Tödlichkeit lähmte mich nicht. Ich vertraute auf meinen Schutzengel. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er mich nicht retten würde, wenn ich mich leichtsinnig an den Rand stellte.
Ich blieb also einige Schritte vom Abgrund entfernt stehen und blickte in die Tiefe. Alle um mich herum zogen ihre Handys aus den Taschen und fotografierten.
Das hier war die einzige nicht eingezäunte Aussichtsstelle. Deshalb mussten wir uns besonders gut benehmen und die Lehrer waren sehr angespannt und aufmerksam. Man spürte, wie dringend sie von hier weg wollten. Zu viel Verantwortung lastete auf ihnen.
Der Blick war herrlich. Die Klippen waren rötlich verfärbt. Unten schlug das Wasser gegen die Felsen. Das Rauschen konnte man auch hier oben hören. Und vor uns erstreckte sich das endlose blaue Meer.
Ich liebte das Meer. Ich könnte mich endlos in den Ausblick vertiefen. Aber ich wusste, dass wir weiter mussten. Ich riss mich von dem Anblick los und drehte mich um.
Zumindest wollte ich das. Aber hinter mir entstand plötzlich eine kurze Unruhe. Irgendwer lachte laut, ein anderer kreischte kurz und brüllte dann herum. Ich spürte vor allem einen Stoß im Rücken. Ein Stoß, so stark, dass ich ihn nicht abfangen oder ausgleichen konnten.
Ich stolperte nach vorne, ein, zwei, drei Schritte, versuchte mein Gleichgewicht wieder zu fangen. Doch stattdessen taumelte ich seitlich weiter. Bis der Boden unter mir verschwand.
Meine Füße traten ins Leere, mein Oberkörper fiel nach unten. Mit den Armen und Schulterblättern schlug ich auf den harten Felsen auf, doch meine Hände fanden keinen Halt. Meine Haut schrammte über den Boden, mein Kopf wurde an den Scheinen entlang gezogen und dann befand sich mein ganzer Körper in der Luft.
Ich hörte das Kreischen und Schreien derer, die sahen, was passierte, und derer, die nichts mitbekamen und wissen wollten, was los war.
Und ich spürte, wie das Leben durch mich hindurch fuhr, wie es mich elektrisiert. Ich spürte die Energie. Ich fühlte mich so wach und lebendig wie noch nie. Ich spürte den Atem in meinen Lungenflügeln, den Schmerz in meinen Schultern und Armen, die Sonne auf meiner Haut, den Wind in der Kleidung, während ich fiel
und fiel
und fiel.
Tiefer.
Schneller.
Weiter.

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