Kapitel 15: Blick

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Er blickte herab auf das Mädchen, das in seine Arme gesunken war und sich nicht mehr regte. Ihre Haut war schrecklich kalt, während ihr Blut ihm warm über die Finger tropfte. Die bläulichen Lippen leicht geöffnet, die Augen wie im Schlaf geschlossen. Überhaupt sah sie aus, als würde sie nur schlafen. Er hatte sie schon so oft schlafen gesehen.
Während er ihren zerbrechlichen Körper festhielt, überrollte ihn eine Welle von Selbsthass. Er hätte sie beschützen müssen. Er hätte es verhindern müssen. Er hatte versagt. Schon wieder.
Die Worte hallten bitter in seinem leeren Kopf nach.
Schon wieder.
Er war schuld.
Schuld, dass sie tot war.
Er wusste, dass sie tot war, er hatte es gespürt und er hatte das schon einmal erlebt. Mit ihrem Leben war auch etwas aus ihm gewichen.
Das Schlimmste war, dass es nicht weh tat. Es gab keine Schmerzen, die das ganze irgendwie erträglich gemacht hätten, die ihn abgelenkt hätten, die das ganze wenigstens IRGENDWIE real gemacht hätten. Aber da war nichts. Nur diese unerträgliche Leere und dieses Sehnen, das er das letzte Mal nicht gespürt hatte.
Ganz sanft legte er sie auf den Boden. Er strich noch einmal durch ihr Haar, ordnete es um ihr bleiches Gesicht. Dann nahm er sein T-Shirt an sich.
Eine letzte Träne purzelte von seinen Wimpern. Bis heute hatte er nicht gewusst, dass Engel weinen konnten.
Seine einst so starken Flügel hingen nur schlaff an seinen Seiten, als er sich aufrichtete.
Er wusste, dass er hier nicht länger bleiben konnte.
Mit seinem Shirt in der Hand wanderte er zwischen den Regalreihen hindurch zum Ausgang. Seine Flügel schliffen nutzlos über den Boden entlang. Manchmal spürte er ein zupfen, wenn eine Feder irgendwo hängen blieb. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass er eine Spur aus weißen Federn hinterließ, die die Menschen dennoch nicht würden sehen können. Melody hatte sie gesehen, aber Melody lag nun tot hinter ihm auf den kalten Fließen und würde nie wieder etwas sehen.
Draußen schien die Sonne.
Es gab für ihn nichts mehr zu tun. Hinter ihm war bereits aufgeregt Tumult ausgebrochen. In der ferne heulten die Sirenen eines Krankenwagens, der doch zu spät kam.
Er selbst blieb von all dem unberührt.
Ihre Eltern würde sie beerdigen.
Für ihn gab es nichts mehr zu tun.
Eine neue Aufgabe kam für ihn nicht mehr in Frage. Er wollte ihr folgen. Seine Zeit auf der Erde war schon zu lange, es wurde Zeit für etwas Neues.
Er schloss erschöpft die Augen.
Danial wollte endlich sterben.

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