Kapitel 6: Rettung

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Ich spürte, wie ich nie zuvor gespürt hatte. Mein Gefühl übernahm die Kontrolle, die Gedanken schalteten ab. So musste sich die höchste Stufe der Meditation anfühlen.
Warum fühlt sich das Leben am lebendigsten an, wenn es gerade dabei ist zu vergehen?
Ich hatte das Gefühl, schon Ewigkeiten zu fallen, doch es konnte nicht so weit sein, denn der Rand der Klippe war nur wenige Meter über mir, als er kam.
Ich bemerkte ihn durch das Rauschen. Das Rauschen seiner Flügel übertönte den Wind, der durch meine Ohren pfiff.
Dann spürte ich seine Arme. Sie schlangen sich um mich, drehten mich zur Felswand. Instinktiv streckte ich die Hände nach vorne, bekam einen Felsvorsprung zu fassen und hielt mich fest. Meine Finger verkrampften sich um das kalte Gestein. Auch wenn ich jetzt im Moment nicht fiel, lange würde ich mich hier nicht halten können.
Doch er schob mich auch schon weiter, seine starken Flügel schlugen gleichmäßig, während er mir half, nach oben zu klettern.
Der kleine Vorsprung, an dem ich mich gehalten hatte, entpuppte sich als gar nicht so klein. Wind oder Wasser hatten eine kleine Höhle gegraben, gerade groß genug, dass ich sicher und bequem sitzen konnte.
Was für ein Zufall.
Erschöpft drückte ich mich gegen die Wand.
Ich spürte, wie sein Griff sich lockerte, wie er mich losließ, mir schob wieder entglitt.
"Nein, bleib da", flüsterte ich. Ich war selbst erstaunt, wie hilflos mein Stimme klang. Aber war das wirklich erstaunlich? Das Herz schlug mir bis zum Hals und ich hörte das Blut noch durch meine Adern rauschen.
Ich war gerade von einer Klippe gefallen.
Und ich lebte immer noch.
Mit eiskalten Fingern umklammerte ich seine Hände und versuchte, ihn festzuhalten.
Und er blieb.
Ich hörte sein leises Seufzen, als er sich neben mir nieder ließ, direkt an der Kante, die Beine baumelnd über dem Abgrund.
"Melody?" Ich sah nach oben. Herr Leopold hatte sich über die Felsen gebeugt und sah zu mir herunter. "Bist du Okay?" Seine Augen waren weit aufgerissen, das sah ich auch von hier unten.
"Mir geht's gut", rief ich.
"Bleib, wo du bist! Wir rufen einen Rettungsdienst!"
Ich nickte stumm. Herr Leopold hatte kein Wort über den Engel an meiner Seite verloren. Er hatte ihn nicht gesehen.
Ich hörte, wie an der Aussichtsplattform die Lehrer die aufgeregten Schüler vom Abgrund zurückdrängen.
Ich spürte, dass ich zitterte, aber sonst fühlte ich mich schon wieder ganz gut, als ich mich zu dem Engel zurück drehte.
Mein Engel.
Endlich hatte ich Zeit, ihn mir einmal so richtig anzusehen.
Hohe Wangenknochen, blonde Haare, sanft geschwungene Lippen. Details, an die ich mich nicht mehr hatte erinnern können. Nur die Augen, das blaugrüne Leuchten, das war mir vertraut.
Schweigend saßen wir nebeneinander, meine Hand hielt immernoch seine fest, während er die andere hob und mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.
Ein seltsames Gefühl der Sicherheit durchströmte mich. Seltsam, weil ich immernoch hoch über dem Meer auf einem kleinen Klippenvorsprung saß, eng an die Wand gedrückt, aber trotzdem keinen Meter vom Abgrund entfernt.
Aber er saß vor mir und versperrte mir die Sicht auf die Tiefe.

Ich verlor die Zeit aus den Augen. Sie verging, doch ich merkte es kaum, vergaß es. Die Zeit schien still zu stehen, gleichzeitig raste sie dahin.
Dann kam der Rettungstrupp und wir wurden aus der Zeitlosigkeit gerissen.
"Nicht erschrecken, wir kommen jetzt herunter!", rief ein Mann.
Ich spürte, wie sich die Muskeln meines Engels an spannten, die Züge in seinem Gesicht, seine Lippen, die Augenpartie, verhärteten sich. Mühelos entglitt er meinem Griff. Kaum verloren wir den Kontakt, verschwand er im nichts.
Dann holten sie mich rauf. Die Rettung war völlig unspektakulär. Oben nahm mich eine Frau in Empfang. Sie legte mir eine Decke um und stellte mehrere Fragen zu meinem Wohlbefinden. Und das alles auf englisch, eine ganz schöne Herausforderung, wenn man gerade von eine Klippen geflogen ist und von einem Engel gerettet wurde.
Herr Leopold stand mir zur Seite, so gut er konnte, aber sprechen musste ich für mich selbst.
"Gesund, aber geschockt", lautete die Diagnose, "Ruhe" die Empfehlung.
Während also die restlichen Lehrer die aufgeregte Schülerschar weiterscheuchten, machten Herr Leopold, Nele und ich uns auf den Weg zurück zum Bus, damit ich dort Ruhe haben konnte.

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