Kapitel 11: gestorben

72 4 0
                                    

Als ich aufwachte, war er immer noch da. Er lag mit geschlossenen Augen neben mir und atmete ruhig ein und aus. Ich nutzte die Zeit und betrachtete Danials Gesicht. Sanfte Wangenknochen, unauffällige gerade Nase. Sein Kiefer zog eine markante Linie vom Kinn bis unterhalb des Ohres. Sein Hals war schlank und weiß, seine Lippen schmal und bildeten den roten Kontrast.
Vorsichtig ließ ich mich wieder neben ihn ins Kissen sinken.
“Bist du wach?“, flüsterte ich leise.
Seine Augen blieben geschlossen. “Ja“, murmelte er, “ich erwache mit dir.“
“Wie bewachst du mich dann, wenn ich schlafe?“
“Gar nicht. Wir können nur aufpassen, wenn unser Mensch wach ist.“
“Was ist mit den ganzen Menschen, die sterben? Wo waren ihre Engel?“
Jetzt öffnete er die Augen und sah zur Decke. Mich hatte er heute noch kein einziges Mal angesehen.
“Manche wollen sterben. Wer wirklich sterben will, der findet auch einen Weg. Das kann selbst der beste Engel nicht verhindern.
Und dann musst du wissen, auch Engel können keine Wunder vollbringen. Wir können unseren Menschen nur retten, wenn er sich selbst retten könnte. Und wir können nur retten, wenn unser Mensch mitmacht.
Als ich dich als Kind vor dem Auto weggezogen habe, bist du selbst gelaufen. Und als ich dich an der Klippe hochgezogen habe, hast du dich selbst festgehalten.
Wir können euch Kraft geben. Wir können schneller reagieren. Aber tatsächlich retten müsst ihr euch letztendlich selbst. Und gegen Krankheiten, Autos und Gewehre sind auch wir machtlos.“
Er schwieg kurz und schluckte. “Und manchmal ist ein Engel auch nicht aufmerksam genug. Dann verpasst er seine Chance, seinen Menschen zu retten. Das ist traurig, aber leider durchaus möglich.“
Langsam drehte er sich zu mir und der Blick, der mich traf, war so traurig, so intensiv, so liebevoll, dass ich vergaß zu atmen.
Ganz sanft umfasste er eine meiner Strähnen und hob sie zur Seite, ließ sie aber nicht mehr los. Seinen Arm stürzte er auf meiner Schulter ab.
“Aber dir wird nichts passieren. Ich bin da und ich werde auf dich aufpassen. Immer.
Atme bitte weiter.“
Tief in meinem Bauch flatterte etwas. Zitternd holte ich Luft.
“Was passiert mit dir, wenn ich sterbe? Irgendwann werde ich sterben.“
“Lass uns doch jetzt noch nicht darüber nachdenken“, seufzte Danial wehmütig.
“Ich will es aber wissen!“
Ich spürte unter der Decke seinen Bauch an meiner Hand, als er tief einatmete.
“Ich mache ein bisschen Pause und kann dann entscheiden, ob ich aufhören möchte oder den nächsten Menschen übernehme.“
“Wie viele Menschen hattest du schon?“
Lächelnd ließ er nun doch die Strähne fallen und legte seine kühle Hand auf meine heiße Wange. “Du bist mein zweiter Schützling.“
“Wer war der Erste?“
Danial schwieg.
“Darüber möchte ich nicht sprechen“, sagte er schließlich.
“Okay“, flüsterte ich. Ganz vorsichtig, schüchtern, legte ich den Kopf auf seinen linken Oberarm, während seine rechte Hand immer noch auf meiner linken Wange ruhte.
“Darf ich noch was fragen?“, fragte ich schließlich.
Seine Stimme war plötzlich sehr rau. “Natürlich.“
“Wenn du entscheidest zu gehen, wohin kommst du dann?“
Das Flattern in meinem Bauch wurde beinahe unerträglich, als Danial mit dem Daumen über meinen Wangenknochen zu streichen begann.
“Das weiß ich nicht. Keiner, der entscheidet zu gehen, kommt wieder, um es zu erzählen. Ich denke, wir sterben einfach, so wie wir es eigentlich schon längst hätten tun sollen.
Aber ich denke, es ist schön dort.“
Ich zog meinen Kopf weg. “Du hättest schon längst sterben sollen?“
Vorsichtig dirigierte Danial meinen Kopf wieder auf seinen Arm.
“Genau genommen bin ich schon gestorben.“

Love AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt