Ich saß auf der Klippe und spähte hinab. Tief unter meinen baumelnden Füßen krachte salziges Wasser gegen die Felsen. Unendlich weit erstreckte sich das Meer bis zum Horizont, wo die Sonne gerade versank. Ohne zu binzeln starrte ich in das goldene Licht.
Hier war ich also wieder.
Ich sah hinunter in die Tiefe und hatte keine Angst.
Mit meinem Körper waren auch meine Erinnerungen zu mir zurück gekehrt, aber sie waren anders als früher. Klarer und doch weiter weg.
Ich drehte den Kopf und sah Danial neben mir sitzen.
“Hier bin ich von der Klippe gefallen und du hast mich gerettet.“
Danial nickte. “Die meisten kommen an einem Ort zurück, der ihnen wichtig ist.“
Ich lächelte. “Warum bist du hier?“
“Weil ich wusste, dass ich hier her kommen musste.“
Ich nickte, weil ich verstand was er meinte.
“So wie ich.“
“Ja, so ähnlich. Ich kann es nicht richtig erklären.“
“Musst du auch nicht.“ Nachdenklich sah ich wieder zur Sonne. “Was ist inzwischen geschehen?“
Danial stand auf und zog mich an der Hand ebenfalls nach oben. “Komm mit, ich zeige es dir.“
Und dann sprangen wir beide Hand in Hand von der Klippe und als meine Flügel kraftvoll den Wind einfingen und mich über die Wolken hoben, durchströmte mich eine unbändige Kraft.In meinem Zimmer sah alles aus wie früher. Vor einem Jahr war ich gestorben, doch meine Eltern hatten nichts verändert. Den Heften auf meinem Schreibtisch sah ich an, dass sich nicht nur einmal jemand darüber gebeugt und geweint hatte. Die Tinte war schon ganz verwischt von den vielen Tränen, die darauf hinab getropft waren.
Es war Nacht, alle schliefen, aber ich konnte sehen als wäre es Tag.
Im Flur auf der Kommode stand ein Bild von mir und direkt daneben lachte mich ein blondes Mädchen von vielleicht fünf Jahren aus einem hölzernen Rahmen an.
“Wer ist das?“, fragte ich leise.
“Das ist July. Sie wurde ihren Eltern weggenommen, weil die sie geschlagen und misshandelt haben. Jetzt ist sie zur Pflege bei deinen Eltern. Wenn der Gerichtsprozess gut läuft, können sie sie adoptieren.“, erklärte Danial ruhig.
Ich schlich ins Zimmer meiner Eltern und sah in einem provisorischen Nachtlager July liegen und schlafen, neben ihr ihr Engel, der ebenfalls tief und fest schlief. Im Ehebett lagen meine Eltern, dicht nebeneinander, und über ihnen schwebten ihre schlafenden Engel.
Und als ich so auf sie herabblickte, wusste ich, dass sie nie ganz über dem Schmerz hinwegkommen würden, den es verursacht hatte, als sie ihr einziges Kind so plötzlich verloren. Aber sie würden einander Kraft geben und July würde ihnen helfen, dennoch glücklich zu werden.
Ich wusste, dass sie mich weder sehen noch hören konnten, denn ich war ein Engel und Menschen sehen keine Engel. Dennoch flüsterte ich: “Es ist okay, wenn July mein Zimmer bekommt. Ihr braucht es nicht für mich aufzubewahren, denn ich werde nie wieder dort schlafen.“ Oder Hausaufgaben machen. Oder Musik hören.
Leichte Trauer erfasste mich, während ich so auf meine Familie herabblickte.
Danial nahm mich sanft in den Arm.
Bald würden einige Kilometer von hier entfernt kleine Zwillinge auf die Welt kommen, schreiend und hilflos, und es war unsere Aufgabe, sie bis an ihr Lebensende zu beschützen.
Ich sah Danial an: “Ich bin froh, dass du nicht mit mir gestorben bist.“
Seine Augen leuchteten sanft, als er erwiderte: “Ich bin froh, dass du zurückgekehrt bist.“
“Warum bin ich zurückgekehrt?“, stellte ich die Frage, die mich beschäftigte, seit ich da war.
Danial nahm mein Gesicht in seine Hände, malte die Konturen meine Wangen mit seinen Daumen nach kurz bevor unsere Lippen sich in einem süßen Kuss trafen, flüsterte er: “Manche Menschen sind schon ihr ganzes Leben lang Engel.“
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Love Angel
Teen FictionMein Engel beschützte mich schon seit meinem ersten Tag. Und obwohl mir niemand glaubte, wusste ich es. Denn ich hatte ihn gesehen. Schon damals und nun wieder. Und ich würde ihn nochmal sehen. --- Melodys Schutzengel ist immer für sie da. Daran gl...